Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
erkennen, dass dieser Dreckskerl längst tot war – er hatte es nur selbst noch nicht begriffen. Er war völlig ausgemergelt, seine Haut war gelb und wirkte papierartig, straff über seine Knochen gespannt. Er war hochgewachsen, bewegte sich aber äußerst ungelenk und beugte sich bei jedem Schritt so weit vor, dass es wirkte, als sei er geschrumpft. Leuchtend rotes Blut strömte ihm aus der Nase und einem Mundwinkel, lief dann in derartigen Mengen an seinem Hals herab, dass es aussah, als habe er einen dicken Strick um die Kehle. Das Gute war: Er roch nicht nach Schweiß. Das Schlechte hingegen: Er roch, als sei er schon seit mindestens einer ganzen Woche tot. Der Gestank kroch jedem in seiner Umgebung in die Nasenlöcher und schlug einem so heftig entgegen, dass einem die Augen tränten.
»Hilfe«, hauchte er, fast unhörbar. »Hilfe!«
Ich schaute ihn an, unfähig den Blick abzuwenden, und tief in meinem Innersten schwoll etwas an, was ich wohl am besten mit ›Zeitlupen-Panik‹ beschreiben konnte. Der Kerl war noch keine zehn Meter weit an mir vorbeigegangen, als er plötzlich stockte und dann zusammenbrach, einfach an Ort und Stelle, als hätte ihm jemand seine spindeldürren Beine unter dem Leib weggetreten. Dort lag er auf der Straße, zuckte noch ein paar Sekunden lang, und alle Bürger des Systems wichen ihm weiträumig aus. Unter sichtlicher Anstrengung gelang es ihm, sich auf die Ellbogen zu stützen. Er keuchte und starrte geradeaus, als sei das Ziel, das er zu erreichen versuchte, schon in Sichtweite. Dann hustete er einen unglaublichen Klumpen roten Schleims aus: Die dicke Masse zog richtig Fäden! Danach schien er sich ein wenig zu beruhigen, und kurz glaubte ich schon, er werde sich vielleicht wieder aufraffen können. Er mühte sich auch, doch dann brach er wieder zusammen und blieb reglos liegen. Die Menschen gingen einfach an ihm vorbei. Ein paar Leute drehten sich nach ihm um, andere blickten nur weiter geradeaus.
»Genauso läuft es bei dieser Scheiße«, sagte Jabali leise und zerrte an meinem Arm. »Kommen Sie, Boss! Sich so ’n Scheiß anzuschauen bringt Unglück!«
Seltsam benommen ließ ich mich von ihm wieder in die Menschenmenge ziehen. Einen Tag war ich weg gewesen -einen einzigen gottverdammten Tag! Ich war mit Glee aufgebrochen, und alles war so gewesen wie immer. Dann kam ich zurück, und meine Leute waren tot, verdammte Scheiße! Ich hatte das Gefühl, ein Stecker in meinem Schädel sei aus der Buchse gerutscht, und ich schaffte es einfach nicht, das Ding wieder einzustöpseln.
Schließlich erreichten wir ›Pick’s‹, und als wir eintraten, wurde es in dem Laden totenstill. Die Luft war warm und stickig, aber sie roch vertraut: nach Rauch und Sägemehl. Die Kneipe war vielleicht halb voll, und wir stellten fest, dass es nicht annähernd so ungestüm laut war wie sonst. Vielmehr herrschte hier auffallend gedämpfte Stimmung. Man unterhielt sich nur leise. Alle schienen sich gleichzeitig nach uns umzudrehen und dann den Blick wieder abzuwenden, und das leise Stimmengewirr verwandelte sich in echtes Flüstern. Melody stand hinter der Bar, hielt bei dem, was sie eigentlich gerade hatte tun wollen, einfach inne und kam geradewegs auf uns zu, eine Flasche mit trübem Schnaps in der Hand. Ihre Miene war sehr grimmig.
»Avery«, setzte sie an, und dann hustete sie lautstark, ein verschleimtes Keuchen, als hätte sie tagelang eine Zigarette an der anderen angezündet. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den Schleim hinunterzuwürgen. Ihr Gesicht war knallrot. Geduldig wartete ich ab; ich kannte Melody schon ewig.
»Im Hinterzimmer«, brachte sie schließlich heraus. Ich nickte und wollte schon auf Picks Büro zugehen, doch ich hielt inne, als Melody den Arm nach mir ausstreckte. »Avery!«, sagte sie und verzog das Gesicht. Ein sonderlich hübsches Mädchen war sie nicht gerade. Allmählich wurde sie fett, und irgendwann in den letzten Jahren hatte sie noch einen zweiten Zahn verloren. Doch das störte sie selbst nicht allzu sehr, schließlich hatte sie noch nie wirklich gut ausgesehen. Jetzt zu sehen, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, war schlichtweg bizarr. Ich hatte noch nie erlebt, dass Melody geweint hätte. Wirklich noch nie. »Avery, Glendon ist tot.«
Ich erstarrte. Einen Moment lang starrten Melody und ich einander bloß an, wahrscheinlich waren wir die Einzigen auf der ganzen Welt, denen es wirklich etwas ausmachte, dass Pickering tot war – von den Auswirkungen
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