Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
Belüftungsanlage, auf dem Dach eine Vid-Schüssel – Mittelklassen-Luxus eben. Ich rechnete nicht damit, allzu große Schwierigkeiten zu haben, in dieses Haus einzusteigen. Selbstredend war es verrückt, in ein Gebäude einzudringen, das nur einen Häuserblock von ›Cop Centrah entfernt lag. Und ›verrückt‹ war manchmal die beste Tarnung, die man kriegen konnte.
»Und jetzt, Boss?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Jetzt warten wir.«
Warten war das wichtigste Talent eines jeden Revolverhelden. In fast der Hälfte aller Geschichten über Canny Orel ging es darum, wie er heldenhaft lange gewartet hatte, einer Statue im Halbdunkel gleich – selbstverständlich hatte er die ganze Zeit über kaum geatmet. Tatsache war: Einfach irgendwo hineinzumarschieren zahlte sich nicht aus. Durch das völlig unzureichende Sicherheits-Interface und die teuren – und ebenso nutzlosen – Zwischentüren würden wir kostbare Sekunden verlieren, wenn wir versuchen sollten, mit Gewalt dort einzudringen, und so würde Terries flüchten können oder vielleicht sogar die Cops rufen. Und da er nun einmal ein offizieller Regierungsbeamter war, würden die vielleicht sogar kommen - auch wenn es Gerüchten zufolge um das Verhältnis zwischen dem SSD und der Zivilregierung nicht zum Besten stand. Nein, wir mussten Terries auf der Straße abfangen, und dabei sollten wir sauber und rasch vorgehen.
Ich wollte mit dem Mann bloß reden, wollte herausfinden, was er wusste, ohne dass jemand einen aus reiner Gedankenkraft bestehenden Daumen tief in mein Gehirn hineindrückte. Ein Vid-Schirm war über dem Dach eines hoch aufragenden schmalen Gebäudes angebracht. Das oberste Stockwerk dieses Hauses war offensichtlich ausgebrannt. In ganz New York gab es wohl keinen Platz, an dem man sich aufhalten konnte, ohne irgendwo einen Vid-Schirm zu sehen. Die Scheiß-Regierung ließ immer weiter diese Dinger aufstellen und tauschte sämtliche alten Modelle nach und nach durch neuere mit zusätzlichen Features aus. Sogar innerhalb von Gebäuden stieß man auf die Dinger, an den unmöglichsten Orten. Dieses Ding da vor uns plärrte geräuschlos die neuesten Nachrichten in die Welt: Die Zivilregierung – also die Unterstaatssekretäre, schließlich bestand der Einheitsrat, dem sie offiziell unterstellt waren, nur noch aus ein paar toten Hüllen, die tief unter London begraben waren – hatte eine neue Verordnung erlassen: Es galt, ein umorganisiertes System-Militär zu schaffen, und zwar sofort. Eine Armee hatte es seit der Vereinigung nicht mehr gegeben. Wer brauchte denn schon eine Armee? Jetzt sorgten doch die hingebungsvollen fähigen Mitglieder unseres geliebten System-Sicherheitsdienstes dafür, dass wir alle uns wohl fühlten, und wir waren schließlich eine vereinigte Welt, ganz ohne Grenzen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und ignorierte Jabalis sehnsuchtsvollen Blick. Ich konnte warten, wenn das nötig war.
Vielleicht nicht reglos wie eine Statue, aber ich zweifelte daran, dass wirklich alle Geschichten, die man so über Canny Orel hörte, wahr waren. Wahrscheinlich hatte er tatsächlich jede Menge Leute umgebracht, aber, hey: Leute umzubringen ist ja nun auch einfach! Und wenn man viele umbringt, zeigt das nur, dass man ehrgeizig ist.
Ich hatte die halbe Schachtel weggequalmt, als mir Jabali gegen die Schulter stieß und dabei die Straße hinabblickte.
»Da ist er, Boss. Weißes Haar, Gehstock.«
Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich die Straße hinunter und sah ihn – einen hochgewachsenen Mann mit auffallend gerader Haltung. Er trug einen blauen Anzug und hatte einen knorrigen Gehstock aus Holz in der Hand. So alt war der Kerl gar nicht, vielleicht ein bisschen älter als ich. Aber er wirkte frisch und munter, seine Haut war gut durchblutet und schien sogar über diese Entfernung hinweg – fast zehn Meter – regelrecht zu strahlen. Sein weißes Haar wirkte sauber und rein. Er bewegte sich rasch, den Blick fest auf ein kleines Gerät in seiner Hand gerichtet. Die anderen Leute auf der Straße gingen ihm instinktiv aus dem Weg.
Ich deutete auf Terries’ Haus. »Geh zur Tür!«, sagte ich und mischte mich unter die Menschen. Ich wich Pedicabs und parfümierten Männern und Frauen aus, schlängelte mich hinter den freundlichen Doktor und mühte mich, ihn einzuholen. Dabei umfasste ich unauffällig mein Messer, und der umwickelte Griff fühlte sich wieder einmal massiv und beruhigend an. Ich dachte an Gleason, als ich den letzten
Weitere Kostenlose Bücher