Sommer am Meer
lauter Weinen nicht antworten. Ihre Mutter fuhr fort, beruhigend, gütig: „Sei nicht so unglücklich. Es ist wohl das erste Mal, daß ein Mann dir weh getan hat, aber ich kann dir versichern, es ist bestimmt nicht das letzte Mal. Glaub mir, die Männer sind selbstsüchtige Kreaturen.“
„Eustace war nicht so.“
„Nein?“
„Er war lieb. Er ist der einzige Mann, den ich wirklich gemocht habe.“ Sie putzte sich kräftig die Nase und sah ihre Mutter an. „Du konntest ihn nicht leiden, nicht?“
Mrs. Parsons war einen Moment sprachlos über diese ungewöhnliche Direktheit. „Nun ja... sagen wir, Typen wie er waren nie mein Fall.“
„Du meinst, es hat dir nicht gepaßt, daß er Landwirt ist?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Nein, aber das hast du gemeint. Du magst bloß kinnlose Weichlinge wie Mrs. Menheniots Neffen.“
„Ich kenne Mrs. Menheniots Neffen nicht.“
„Nein, aber den hättest du gemocht.“
Mrs. Parsons antwortete nicht sofort. Doch nach einer Weile sagte sie: „Vergiß ihn, Virginia. Jedes Mädchen muß eine unglückliche Liebe haben, ehe sie den Richtigen kennenlernt und schließlich heiratet. Und wir beide werden diesen Sommer viel Spaß haben. Es wäre ein Jammer, es dir zu verderben, indem du etwas nachweinst, das vermutlich gar nicht existiert hat.“
„Ja.“ Virginia wischte sich die Augen und steckte das durchweichte Taschentuch in ihre Handtasche.
„Braves Mädchen. So, und jetzt keine Tränen mehr.“ Und zufrieden, weil sie die Wogen geglättet hatte, lehnte Mrs. Parsons sich zurück und nahm ihre Zeitung wieder zur Hand. Doch kurz darauf ließ sie, durch irgend etwas beunruhigt, die Zeitung sinken und sah, daß Virginia sie unverwandt beobachtete, mit einem Ausdruck in den dunklen Augen, den sie noch nie gesehen hatte.
„Was ist?“
Virginia sagte: „Er hat gesagt, er würde anrufen. Er hat es versprochen.“
„Und?“
„Hat er angerufen? Ich weiß, du konntest ihn nicht leiden. Hast du den Anruf angenommen und mir nichts gesagt?“
Ihre Mutter zögerte keine Sekunde. „Liebes! Was für eine Anschuldigung! Natürlich nicht. Du hast doch nicht wirklich gedacht...“
„Nein“, sagte Virginia matt, als das letzte Fünkchen Hoffnung erstarb. „Nein, das habe ich nicht gedacht.“ Sie lehnte die Stirn an die schmierige Fensterscheibe, und die rasende Landschaft strömte mit allem anderen, das geschehen war, für immer fort in die Vergangenheit.
Das war im April. Im Mai traf Virginia sich mit einer alten Schulfreundin, die sie zu einem Wochenende auf dem Lande einlud.
„Ich hab Geburtstag, irre super, Mami hat gesagt, ich kann einladen, wen ich will, du mußt wahrscheinlich auf dem Speicher schlafen, aber das macht dir nichts aus, oder? Unsere Familie ist wahnsinnig unorganisiert.“
Virginia hielt dies alles für etwas übertrieben. Sie nahm die Einladung an. „Wie komme ich hin?“
„Du könntest mit dem Zug fahren, und jemand könnte dich abholen, aber das ist schrecklich umständlich. Ich sag dir was, mein Cousin kommt wahrscheinlich auch, er hat ein Auto und nimmt mich vielleicht mit. Ich frag ihn, ob er noch Platz für dich hat. Du wirst dich wahrscheinlich nach hinten zum Gepäck quetschen oder auf dem Schalthebel sitzen müssen, aber immer noch besser als das Gedränge in der Eisenbahn...“
Erstaunlicherweise hielt sie Wort. Das Auto war ein dunkelblaues Mercedes-Coupe. Nachdem er Virginias Gepäck in dem übervollen Kofferraum verstaut hatte, wurde sie aufgefordert, sich vorne zwischen die Freundin und den Cousin zu zwängen. Der Cousin war groß und blond, mit langen Beinen und einem grauen Anzug, und seine modisch geschnittenen Haare quollen unter der Krempe seines braunen Filzhutes hervor.
Sein Name war Anthony Keile.
6
M üde und abgespannt von der Reise, mit allen Problemen von Bosithick noch vor sich, stieg Virginia in Penzance aus dem Zug. Sie füllte die Lungen mit der kühlen Seeluft und war froh, zurück zu sein. Es war Ebbe, die Luft roch streng nach Seetang. Jenseits der Bucht ragte der St. Michaelsberg golden in der Abendsonne auf, und wo kleine Bäche und flache Tümpel mit Meerwasser die Farbe des Himmels reflektierten, war der nasse Sand blau gestreift.
Zum Glück war ein Gepäckträger zur Stelle. Als sie ihm und seinem Karren aus dem Bahnhof folgten, fragte Nicholas: „Wohnen wir hier?“
„Nein, wir fahren nach Lanyon.“
„Womit?“
„Ich hab dir doch gesagt, ich hab mein Auto hier
Weitere Kostenlose Bücher