Sommer am Meer
schmalen Flur und die zwei Stufen zum Turmzimmer hinauf.
Es war kalt. Sie setzte sich ans Fenster und blickte über die stillen, schattigen Felder hinaus. Die See lag perlgrau im Dämmerlicht, und das Nachglühen des Sonnenuntergangs machte am Himmel lange korallenrosa Streifen. Im Westen hatten sich Wolken aufgebaut. Sie türmten sich am Horizont, mit goldenen und rosigen Lichtstrahlen durchwoben, doch nach und nach verschwanden auch diese letzten Reste von Licht. Die Wolken wurden schwarz, und im Osten schwebte, schmal wie eine Wimper, der Neumond am Himmel.
Eines nach dem anderen blinkten Lichter in der sanften Dunkelheit auf, die ganze Küste entlang, in Bauernhäusern, Cottages und Scheunen. Hier leuchtete ein Fenster, viereckig, gelb. Dort zuckte ein Licht über einen Hof. Die Scheinwerfer eines Autos bohrten sich durch einen Feldweg und bogen in die Hauptstraße nach Lanyon ein. Virginia fragte sich, ob es Eustace Philips auf dem Weg zum Mermaid's Arms sei. Sie fragte sich außerdem, ob er wohl vorbeikommen würde, um zu sehen, wie es ihnen erginge, oder ob er verschlossen und eingeschnappt warten würde, bis Virginia ihm gewissermaßen einen Ölzweig reichte. Sie sagte sich, daß es sich lohnen würde, und sei es nur um der Genugtuung willen, sein Gesicht zu sehen, wenn er feststellte, wie gut sie allein mit Cara und Nicholas zurechtkam.
Doch am nächsten Tag war alles anders.
In der Nacht war der Wind stärker geworden, und die dunklen Wolken, die sich am Vorabend am Horizont zusammengebraut hatten, wurden landeinwärts geweht und brachten schwere Regengüsse mit. Virginia wurde von dem Gurgeln in den Rinnsteinen, dem Trommeln der Regentropfen an die Fensterscheibe aufgeweckt. Ihr Schlafzimmer war so düster, daß sie die Lampe anknipsen mußte, um zu sehen, wie spät es war. Acht Uhr.
Sie stieg aus dem Bett und schloß das Fenster. Die Dielenbretter unter ihren Füßen waren ganz naß. Der Regen verhüllte alles, sie konnte nur wenige Meter weit sehen. Es war, als wäre sie auf einem Schiff, das einsam in einem Meer aus Regen trieb. Sie hoffte, daß die Kinder erst in ein paar Stunden aufwachen würden.
Sie zog eine lange Hose und ihren dicksten Pullover an, ging nach unten und stellte fest, daß der Regen durch den Schornstein gedrungen war und das Feuer gelöscht hatte. Das Zimmer fühlte sich feucht und kühl an. Streichhölzer waren vorhanden, aber keine Feueranzünder; es gab Holzscheite, aber kein Anmachholz. Sie zog einen Regenmantel an, ging durch den Regen in den halbverfallenen Gartenschuppen und fand ein Beil, stumpf von Alter und Mißbrauch. Auf der Steinstufe vor der Haustür zerhackte sie unter beträchtlicher Gefahr ein dickes Scheit zu Anmachholz, nahm dann Zeitungspapier, das zwischen ihre Lebensmittel gestopft gewesen war, und entfachte ein kleines Feuer. Die Späne zersplitterten und knisterten, und nachdem ein paar dunkle Schwaden ins Zimmer gezogen waren, stieg der Rauch in den Schornstein hinauf, wie es sich gehörte. Virginia schichtete Scheite aufs Feuer und überließ es sich selbst.
Cara erschien, als sie Frühstück machte.
„Mami!“
„Hallo, mein Schätzchen.“ Sie gab ihr einen Kuß. Cara hatte himmelblaue Shorts an, ein gelbes T-Shirt und ein dünnes Strickjäckchen. „Ist dir warm genug?“
„Nein“, sagte Cara. Ihre feinen, glatten Haare waren mit einer Spange zusammengefaßt, ihre Brille saß schief. Virginia rückte sie ihr gerade. „Dann zieh dir wärmere Sachen an. Frühstück ist noch nicht fertig.“
„Aber ich habe keine anderen Sachen. In meinem Koffer ist nichts mehr drin. Nanny hat nichts anderes eingepackt.“
„Das kann ich nicht glauben!“ Sie sahen sich an. „Keine Jeans und Regenmäntel und Gummistiefel?“
Cara schüttelte den Kopf. „Sie hat wohl gedacht, hier ist es heiß.“
„Ja, vermutlich“, sagte Virginia sanft, während sie Nanny innerlich verfluchte. „Aber man sollte meinen, sie verstünde genug vom Packen, um einen Regenmantel in den Koffer zu tun.“
„Wir haben ja was für den Regen, bloß keine richtigen Regenmäntel.“
Sie machte ein so banges Gesicht, daß Virginia lächelte. „Ist nicht so schlimm.“
„Was machen wir jetzt?“
„Wir müssen euch was zum Anziehen kaufen.“
„Heute?“
„Warum nicht? Bei diesem Wetter können wir sonst nichts unternehmen.“
„Gehen wir Tante Alice besuchen und in ihrem Schwimmbad schwimmen?“
„Das heben wir uns für schöneres Wetter auf. Sie wird es uns nicht
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