Sommer am Meer
eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Es war ein schöner Tag.“
Doch Virginia erinnerte sich an einen schöneren, einen anderen Tag, den sie mit Eustace verbracht hatte, einen Frühlingsnachmittag mit Sonne und Wind, als er ihr ein Eis kaufte und sie später nach Hause fuhr. Und er hatte versprochen, sie anzurufen, hatte es dann vergessen oder es sich vielleicht anders überlegt. Sie hätte den ganzen Nachmittag gewartet, daß er ihr erzählen würde, was wirklich geschehen war. Sie hatte erwartet, daß er die Vergangenheit zur Sprache bringen würde, vielleicht als Geschichte, an der er die Kinder teilhaben ließ, oder als harmlose Rückschau, zwei alte Freunde, die sich nach Jahren erinnerten. Aber er hatte nichts gesagt. Und nun würde sie es nie erfahren.
„Ja.“ Sie ließ den Stuhl los, richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle sie sich warm halten. „Ein besonderer Tag. Einer von der Art, die man nie vergißt.“
Er ging um den Tisch herum zu ihr, Virginia wandte sich von ihm ab und öffnete die Tür. Kühle Luft, die süß und feucht roch, strömte herein. Die Nacht war von einem saphirblauen Himmel voll leuchtender Sterne überwölbt. Aus der Dunkelheit kam der lange, traurige Schrei eines Brachvogels.
Eustace trat neben sie. „Gute Nacht, Virginia.“
„Gute Nacht, Eustace.“
Und er ging die Stufen hinunter, fort von ihr, über den Mauertritt und über die Felder zu dem alten Bauernhof, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Virginia schloß und verriegelte die Tür, ging in die Küche, spülte die Kakaobecher der Kinder ab, langsam, sorgfältig. Sie hörte seinen Landrover am Tor vorbeiknirschen, den Feldweg zur Hauptstraße entlang, sie hörte das Motorengeräusch immer leiser werden in der stillen Nacht, aber sie blickte kein einziges Mal von ihrem Tun auf. Als die Becher abgetrocknet waren und es nichts mehr zu tun gab, merkte sie, daß sie müde war. Sie knipste die Lampen aus, ging langsam nach oben, zog sich aus und stieg ins Bett. Ihr Körper war erschöpft, doch ihr Kopf fühlte sich an, als hätte sie sich eine Woche lang von schwarzem Kaffee ernährt.
Er liebt dich nicht.
Das habe ich auch nie angenommen.
Aber du warst dabei, es anzunehmen. Seit heute nachmittag.
Dann hab ich mich eben geirrt. Es gibt keine gemeinsame Zukunft für uns. Das hat er mir sehr deutlich zu verstehen gegeben.
Was hattest du denn gedacht, was passieren würde?
Ich hatte gedacht, er würde darüber sprechen können, was vor zehn Jahren passiert ist.
Nichts ist passiert. Und warum sollte er sich noch daran erinnern?
Weil ich mich erinnert habe. Weil Eustace für mich der wichtigste Mensch war, das Allerwichtigste, was mir je passiert ist.
Du hast dich nicht erinnert. Du hast Anthony Keile geheiratet.
Sie hatten im Juli in London geheiratet, Virginia in einem cremefarbenen Satinkleid mit einer zwei Meter langen Schleppe und einem Schleier, der Lady Keiles Großmutter gehört hatte, Anthony in einem grauen Gehrock und einer tadellos geschnittenen gestreiften Hose. Als sie mit einem kleinen Gefolge von bebänderten Brautjungfern aus der St. Michaelskirche am Chester Square traten, läuteten die Glocken, die Sonne schien, und die paar neugierigen Frauen, die gemerkt hatten, daß hier eine Hochzeit stattfand und gespannt warteten, bis das Portal aufging, stießen Oohs und Aahs hervor.
Die Aufregung, der Champagner, die Wonnen, geliebt, beglückwünscht und geküßt zu werden, hielten Virginia in Trab, bis es Zeit war, hinaufzugehen und sich umzuziehen. Ihre Mutter war da, allgegenwärtig, tüchtig, um den Reißverschluß des eng anliegenden Satinkleides zu öffnen, die Nadeln aus dem geliehenen Diadem und dem duftigen Schleier zu lösen.
„Oh, mein Liebes, alles ist wunderbar gelaufen. Und du sahst wirklich bezaubernd aus, aber vielleicht sollte ich so etwas Eingebildetes über mein eigenes Kind gar nicht sagen... Herzchen, du zitterst ja, ist dir kalt?“
„Nein, mir ist nicht kalt.“
„Zieh andere Schuhe an, und ich helf dir in dein Kleid.“
Es war von kräftigem Rosa, mit einem passenden, mit Blütenblättern verzierten Hut, ein reizendes nutzloses Ensemble, das sie nie wieder tragen würde. Sie stellte sich vor, wie sie von der Hochzeitsreise zurückkehrte, immer noch in knisternder Seide und Blütenblättern, die nun ein wenig zerknittert und an den Rändern braun waren. (Aber sie konnten natürlich nicht braun werden, es
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