Sommer der Entscheidung
zum nächstgelegenen Schlafzimmer, das über dem Eingangsbereich des Hauses lag, von wo aus Helen ihre Geschütze abgefeuert hatte. Sie klopfte und drehte an der Klinke, als niemand antwortete. Der Raumwar dunkel, die Vorhänge zugezogen. Sie machte Licht und sah, dass Helen nicht hier war. Natürlich nicht, Helen konnte auch gar nicht hier drinnen sein, denn es gab in diesem Zimmer keinen Platz. Lediglich ein schmaler Gang führte zum Fenster. Der Rest des Raumes war bis auf Hüft- oder Schulterhöhe mit Plastiktüten angefüllt.
„Großartig.“ Tessa schnüffelte und war erleichtert, keinen Geruch von schimmelndem Abfall wahrzunehmen. Wenn sie Glück hatten, hatte Helen hier oben schlichtweg nur noch weitere ihrer „Sammlungen“, vielleicht noch unsortiert, untergebracht.
Zurück im Labyrinth des Flures stieß sie auf ein weiteres Schlafzimmer, das eine Bibliothek mit alten Büchern beherbergte. Im Raum lag der muffige Geruch eines Antiquariats, obgleich Tessa bezweifelte, dass diese Bücher besonders selten oder wertvoll waren. Aber nur die Hälfte des Raumes war vollgestopft. Es gab einen freien Weg zu einem Bett. Tessa nahm an, dass sie oder ihre Mutter heute Nacht hier schlafen sollte.
Das nächste Zimmer war ebenfalls zur Hälfte aufgeräumt, und Tessa fühlte sich in ihrer Theorie bestätigt.
Im nächsten Zimmer fand sie dann endlich Helen.
Die Tür war nur angelehnt, und als auf das Klopfen niemand antwortete, ging Tessa hinein: Da saß Helen am Fenster und blickte auf den Teich.
Helen war schon immer groß gewesen: Sie hatte breite Schultern und Hüften, schwere Knochen und pralle Brüste. Doch trotz ihrer physischen Größe wirkte sie jetzt klein und verletzlich. Sie war geschrumpft, so, als hätte man ihr alle Lebensenergie ausgesaugt, die ihr zuvor geholfen hatte, selbstbewusst durchs Leben zu gehen. Ihre Haare waren dünn und weiß, und solange sich Tessa erinnern konnte, waren sie zu einem unattraktiven Bob frisiert. Helen schnitt sich selbst dieHaare, was schon immer ein Fehler gewesen war, doch jetzt sah es so aus, als hätte sie seit Monaten nicht mehr daran gedacht.
Tessa kannte Fotos von Helen, als sie noch eine junge Frau war. Es gab nicht viele, denn diese Art von Eitelkeit hatte keinen Platz in Helens strikt protestantischer Familie. Als die Wirtschaftskrise kam, war es mit solchen Oberflächlichkeiten sowieso vorbei. Aber es gab einmal eine Zeit, in der Helen als „eine Frau mit einer guten Figur“ galt, eine Frau, nach der sich die Männer umdrehten und die Aufsehen erregte, wenn sie einen Raum betrat.
Inzwischen zeugten tiefe Falten in ihrem Gesicht von dem Leben, das nicht einfach gewesen war. Auch hatte Helen sich angewöhnt, ständig die Augen zusammenzukneifen, um besser sehen zu können, denn sie lehnte es ab, ihre Brille regelmäßig ihrer Sehstärke anpassen zu lassen. Sie zögerte einen Besuch beim Augenarzt hinaus, obwohl sie mittlerweile zum Lesen ein Vergrößerungsglas brauchte, das auch nicht ausreichte, um scharf zu sehen.
„Gram?“
Helen drehte sich nicht um und schwieg.
„Ich muss mit dir reden.“ Tessa kam näher. Das Schlafzimmer war erstaunlich groß. Es hatte eine Reihe Fenster an der hinteren Wand, wo Helen jetzt saß. Hier war der Fußboden ebenfalls zugestellt, aber nicht so schlimm wie in den übrigen Räumen. Stoff war säuberlich auf Regalen gestapelt, die aus einfachen Brettern und Backsteinen bestanden; Nähutensilien hingen an einer Leiste. Natürlich gab es auch hier überall Haufen, aber sie waren an die Wände geschoben, so dass es in der Mitte des Zimmers Platz gab.
„Ich will nicht reden“, sagte Helen schließlich. „Reden ist sinnlos.“
„Dann, fürchte ich, wirst du mir einfach zuhören müssen.“Tessa ging hinüber zu den Fenstern, stellte sich neben den Stuhl ihrer Großmutter und starrte hinaus auf den Teich.
Der kleine Weiher war, wie auch der Rest der Farm, ausgedörrt und trocken. Sie erinnerte sich an bessere Zeiten, als kleine Wellen gegen die Äste von den Trauerweiden am Uferrand schwappten. Sie schätzte, dass der Teich um ein Drittel geschrumpft war, die Fische darin mussten um ihren Lebensraum kämpfen, und das neu entstandene Ufer hatte sich zu einer schlammigen Ebene verwandelt.
„Es war ein schrecklich heißer Sommer, oder?“, erkundigte sich Tessa.
Helen gab keine Antwort.
Tessa fragte sich, ob sich das Leben ihrer Großmutter verändert hatte. Hatte sie angefangen, die ganzen Dinge zu sammeln, nur um
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