Sommer der Entscheidung
jede einzelne Mahlzeit vor, bis vielleicht auf eine Schale Müsli oder ein Sandwich. Insofern war Tessa überrascht, dass ihre Mutter sich über diese Frage Gedanken gemacht und dementsprechend vorgesorgt hatte.
„Erdnussbutter?“, fragte Tessa.
„Sarah hat die Tüte gepackt, aber ich glaube, Erdnussbutter ist drin. Außerdem bat ich sie um Thunfisch und ein Glas Mayonnaise.“
„Gut, dann mache ich Sandwiches.“
„Bist du sicher? Du kannst auch erst mal unter die Dusche gehen, dann mache ich mich solange in der Küche nützlich. Noch kann ich mich bewegen. Noch stehe ich auf meinen zwei Beinen.“
„Schon gut, du kannst ruhig gehen.“ Tessa hatte Nancy bereits über den Zustand der Schlafzimmer informiert. „Such dir einfach ein Zimmer aus. Bettwäsche ist im Flur. Tonnenweise.“
„Es ist lange her, dass ich hier geschlafen habe“, stellte Nancy fest.
„Wo war dein Zimmer?“
„Es ist das, das zum Wald hinausgeht.“
Das Bücherzimmer. „Gram war so aufmerksam, dir ein paar Bücher hinzulegen, damit du über den Sommer etwas zu lesen hast.“ Tessa versuchte, dabei nicht zu lächeln.
Nancy schloss ihre Augen für einen kurzen Moment, als stellte sie sich den Anblick bildlich vor. „Ich hole meine Tasche.“ Sie ging auf die Haustür zu, dann drehte sie sich um. „Und Wein. In der Lebensmitteltüte ist auch eine Flasche Wein, das ist mir gerade noch eingefallen.“
Helen war Alkohol gegenüber nicht abgeneigt. Tessa wusste, sie hätte nichts dagegen, wenn sie ein Gläschen tranken,vielleicht würde ihre Großmutter sogar eines mittrinken, wenn es ihnen gelänge, sie zum Essen herunterzulocken.
„Tessa, ich …“, Nancy hielt inne. „Oder denkst du, wir sollten lieber auf den Wein verzichten? Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich wollte es dir nicht unter die Nase reiben. Ich weiß, wie du darüber denkst …“
„Ist schon in Ordnung.“
Nancy war sensibel genug, nicht weiter auf das Thema einzugehen, und verließ den Raum.
Der Pfad zur Küche war nun breiter. Tessa hatte bereits den ganzen Müll in zwei Kategorien eingeteilt, zumindest in ihrem Kopf. Die Verteilung war, soweit sie es bis jetzt einschätzen konnte, etwa gleich groß: Die erste Hälfte bestand aus Dingen, die einfach weggeschmissen werden mussten, bei der zweiten wurde es schwieriger. Stapel mit alten Briefen, Rechnungen, von denen man nicht sagen konnte, ob sie schon bezahlt waren oder nicht, Kartons mit Fotos, Dinge, die vielleicht noch jemand verwenden konnte, wenn auch nicht Helen sie behalten sollte. Zunächst hatte Tessa gehofft, sie könnten einfach alles entsorgen, aber nachdem sie einige Stunden aufgeräumt hatten, wurde ihr klar, dass es so einfach nicht sein würde.
Die Küche war ein glänzendes Beispiel für die zweite Kategorie: Es wunderte niemanden, dass Helen auch Essen hortete. Falls ein riesiges Unglück über die USA hereinbrechen sollte, müssten sich die Bewohner der Fitch Crossing Road und das Städtchen Toms Brook keine Gedanken über ihre Versorgung machen. Jetzt verstand Tessa auch Helens Sammlung von Marmeladengläsern im Wohnzimmer. Sie benutzte sie, um alles Mögliche darin aufzubewahren: Gewürze, Getreide, Nudeln, Müsli. Sie kochte ihre eigene Konfitüre und nutzte die restlichen Gläser für sonstige Zwecke. Die eingemachten Lebensmittel – und davon gab es eine ganzeMenge – waren in normale Weckgläser abgefüllt. Da Tessa solche Weckgläser bisher noch nicht im übrigen Haus gefunden hatte, fragte sie sich, wo Helen sie wohl verborgen hielt. Sie malte sich lieber gar nicht aus, was sie noch alles im Keller finden würde.
Nancy hatte die Tüten mit den Lebensmitteln an dem einzig verfügbaren Platz in der Küche abgestellt: auf Helens kleinem runden Tischchen vor dem Fenster.
Tessas Aufgabe bestand darin, zunächst eine Arbeitsfläche freizuräumen, um die Sandwiches zu machen. Auf der erstbesten Ablage stapelten sich alte Kochbücher, knapp einen Meter hoch. Sie legte sie so auf den Boden neben der rückwärtigen Tür, dass im Notfall noch Platz für einen Fluchtweg blieb.
Danach wischte sie die Fläche mit einem sauberen Schwamm ab – einen von vielen – und legte Brot, Thunfischkonserven und Mayonnaise darauf. Hinreichend sorgfältig ineinander gestapelte Schüsseln fand sie im Hängeschrank.
Sie erinnerten Tessa an eine russische Matroschka. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Vater ihr einmal einen Satz solcher Puppen, in Form von Katzen in verschiedenen
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