Sommer der Entscheidung
sogar, dass sie verschwanden, denn dann könnte sie sich wieder frei im Haus bewegen. Tessa konnte noch immer nicht recht glauben, was sie hier sah. Warum würde jemand so viele nutzlose Dinge horten, dass er nicht mehr genügend Platz hatte, um ein normales Leben zu führen? Sie hatte schon von Messies gehört, aber nun gewann der Begriff für sie eine neue Bedeutung.
„Ich bringe es lieber gleich hinter mich“, sagte sie.
„Du solltest dir vielleicht eine Schnur um die Hüfte binden, für den Fall, dass du verloren gehst. Ich hätte dir zu Brotkrumen geraten, aber das würde die Mäuse aus ihrem Versteck locken.“ Nancy stand auf. „Ich schaffe in der Zwischenzeit die Zeitungen raus. Wenigstens ein paar.“
„Wir müssen auf unsere Rücken aufpassen. Nimm immer nur kleine Stapel.“
Nancy berührte ihre Tochter am Arm. „Du musst entschieden wirken, Tessa. Wir dürfen sie nicht bedauern. Entweder fliegt das Zeug raus oder sie . So einfach ist das.“
„Das weiß sie bestimmt. Du hast ihr ja schon mit dem Gesundheitsamt gedroht.“
„Ich hätte sie schon vor Monaten hergeschickt, wenn ich geahnt hätte, dass es so schlimm ist.“
Die Behörden einzuschalten wäre vielleicht der vernünftigere Ansatz gewesen, aber was hätte das für Helen bedeutet? Die Farm, das Haus waren ihr Leben. Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubte Tessa nicht daran, dass es eine gute Idee war, ihre Großmutter in ein schickes Altersheim in eine fremde Stadt zu stecken. Es würde nichts bewirken, außer dass sie früher sterben würde.
Sie ließ Nancy zwischen den Stapeln zurück und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Helen hatte auch die Treppe so vollgestopft, dass immer nur genau der Raum für einen einzelnen Fuß auf jeder Stufe frei war. Ein falscher Tritt, und man hätte leicht fallen können. Tessa nahm sich vor, gleich nachdem die alten Zeitungen draußen waren, die Treppe freizuräumen. Das Letzte, was Helen brauchte, war ein gebrochener Hüftknochen.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal im ersten Stockwerk gewesen war. Das Haus war riesig, hier und dort waren über die Zeit immer noch Räume angebaut worden, wenn man noch mehr Platz für die unzähligen Kinder oder alten Verwandten brauchte, die eingezogen waren, um hier den Lebensabend zu verbringen. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und versuchte sich zu erinnern, wo das Schlafzimmer war.
Die Haufen im oberen Flur bestanden aus Kleidung. Tessa fiel auf, dass Helen immerhin sehr gut organisiert war. Overalls und Jeans lagen auf einem Stapel, offensichtlich war hier das Ordnungskriterium der Stoff. Ein weiterer Haufen sah nach Hemden aus, der nächste bestand aus Kleidern. Zusammengerollte Socken bildeten einen Hügel, ein Stapel Schuhkartons beinhaltete keine Schuhe, sondern abgetragene Unterwäsche. Diese Haufen waren nicht so hoch wie die imErdgeschoss, aber trotzdem gingen sie bis zum Knie, und es waren viele. Tessa suchte sich ihren Weg durch dieses Labyrinth. Hier war die Ruhestätte für Geschirrhandtücher und Bettwäsche, aus der man nur noch ein Halloweenkostüm hätte nähen können. Sie kam zu einem Turm, der aus abgenutzten Handtüchern bestand, und lehnte sich vorsichtig dagegen, als ihre Hüfte den Stapel berührte.
„Gram?“
Helen antwortete nicht, selbstverständlich. Das wäre ja zu einfach gewesen. Tessa erinnerte sich an eine Reise, die sie, Mack und Kayley vor vier Jahren nach London gemacht hatten. Mack war dort zu einer Konferenz gefahren, und sie und Kayley, die damals vier Jahre alt war, waren ihm nachgereist, um sich die Stadt anzugucken. Gemeinsam hatten sie an eine Bootstour die Themse hinunter nach Hampton Court unternommen. Kayley war von dem Labyrinth im riesigen Garten des Gutshauses fasziniert gewesen, sie hatte gekichert und sich versteckt, wie es Kinder schon seit dem achtzehnten Jahrhundert taten.
Alle ihre Freunde hatten Tessa und Mack gesagt, dass Kayley noch zu klein sei, um eine so weite Reise zu genießen, dass das kleine Mädchen sich noch nicht einmal an den Urlaub erinnern würde, wenn es älter sei. Tessa bedauerte es, dass ihre Tochter nur so wenige, kurze Jahre gehabt hatte. Die Bücher, die sie ihr nicht vorgelesen, die Spaziergänge, die sie nicht mit ihr gemacht und die Spiele, die sie nie gespielt hatte. Aber gerade deswegen war sie so froh, dass sie nicht auf ihre Freunde gehört und Kayley in jenem Sommer mit nach England genommen hatte.
Sie bahnte sich ihren Weg
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