Sommer der Entscheidung
leben?“
„Habe ich das Schiff nicht genug ins Wanken gebracht mit dem, was ich dir gestern erzählt habe? Du weißt doch, dass es immer zwei Seiten an einer Geschichte gibt.“
Tessa hatte nicht wahrgenommen, dass Nancy ihrerseits nun auf eine Geschichte von ihrer Tochter wartete, quasi um einen gerechten Ausgleich zu schaffen. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Nancy aus ihrem Leben erzählt hatte, weil sie dadurch von Tessa Mitleid und Unterstützung erfuhr. Sie hatte einfach eine Geschichte erzählt.
Tessa sah von ihrem Quilt auf. „Ich glaube, ich muss wissen, was damals geschehen ist, damit ich mich selbst besser verstehen kann. Vielleicht hilft es mir.“
„Gib mir einen Auftrag. Irgendeinen Auftrag, damit ich ihn erfüllen kann.“
„Nein, erzähl mir einfach die Wahrheit, so wie du sie wahrgenommen hast.“
„Das kann ich tun“, sagte Nancy schließlich nach einerWeile. „Weil es in der Geschichte weder Heilige noch Böse gibt. Sicherlich keine Heiligen. Einfach Menschen, die in einer Situation gefangen waren.“
„ Ich war die ‚Situation‘“, korrigierte Tessa sie. „Dein Kind, das aus einer Liebesbeziehung stammte.“
„Nein, Schätzchen, die Ehe war die Situation. Ich habe meine Ehe zusammengesetzt, so wie ich damals diesen Quilt zusammengesetzt habe, den du jetzt flickst. Und weißt du was? Eine Ehe kann verteufelt schlimm sein.“ Sie lachte, als sie sah, wie Tessa ihre Augen aufriss, weil sie von dem Ausspruch ihrer Mutter so überrascht war. Er klang so gar nicht nach Nancy.
„Stimmt doch, oder?“, fragte Nancy.
Tessa lächelte und wandte sich wieder dem Quilt zu, als ihre Mutter zu erzählen begann.
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24. KAPITEL
Dezember 1965
B illys Eltern waren begeistert gewesen, als er Mary Lou Stalcourt die Anstecknadel seiner Studentenverbindung gab. Da war er in seinem vorletzten Jahr an der Universität. „Lous“ Familie aus Atlanta gehörte zu den alten Farmern aus den Südstaaten und verfügte über das Geld der neuen Südstaaten. Daher verstand Lou es, einen der Familie angemessenen Lebensstil zu pflegen.
Billys Eltern waren nicht begeistert, als er Nancy einen Ehering gab. Das Gespräch, das aus der Nachricht über ihre Heirat resultierte, beinhaltete viele Begriffe wie Nichtigkeitserklärung, Fehlentscheidung und Verleitung , so dass Nancy den Eindruck hatte, sie sei in einer Quiz-Sendung gelandet, in der Worte, die mit -ung enden, gesucht wurden.
Sie konnte der Liste noch Enttäuschung, Entmutigung und Desillusionierung hinzufügen.
Zwei Wochen, bevor sie das zweite Weihnachten als verheiratete Frau feiern sollte, wachte Nancy in dem Zimmer auf, das sie mit ihrer kleinen Tochter teilte. Durch ihre halb geöffneten Lider spähte sie in den Raum, von dem sie jeden Morgen hoffte, er habe sich über Nacht in ihr altes enges Zimmer auf der Farm verwandelt.
Wie immer war ihr Wunsch nicht in Erfüllung gegangen.
Ihr Zimmer bei den Whitlocks war ein großer Raum mit einer hohen Decke. Die überdimensionierten Sprossenfenster wurden von glänzenden Vorhängen verhüllt, die von der Heizungsluft, die aus Düsen aus dem Boden aufströmte, sanft bewegt wurden.
Die Möbel waren im französischen Landhausstil gehalten, sogar Tessas Wiege und die Wickelkommode. Nancysweißes und goldenes Himmelbett war mit geblümtem Stoff dekoriert: zahllose Meter gekämmter Baumwolle mit Blumenmuster, das zu dem Bettüberwurf und den Kissen auf den Stühlen am Kamin passte. Auf dem glänzenden Parkettfußboden lagen dicke weiße Teppiche.
Zwei Kommoden und ein begehbarer Kleiderschrank verbargen alles, was nützlich war. Falls Nancy eine von Tessas Decken auf den Boden fallen ließ, hob Hattie, die Haushälterin der Whitlocks, sie auf, faltete sie zusammen und stopfte sie in eine Schublade, bevor Nancy überhaupt Zeit hatte, sich zu entschuldigen.
Ein diskretes Klopfen drang aus dem Flur herein, und Hattie betrat das Zimmer, ohne zu warten, bis sie hereingebeten wurde. Sie war eine Frau mittleren Alters, und ihre dunkle Haut passte nicht zu der taubengrauen Uniform, die sie tragen musste.
Nancy konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie alt Hattie genau war, aber sie vermutete, dass sie jünger war, als sie aussah. Mrs. Whitlock ließ sie viel arbeiten, und Nancy wusste, dass, wenn Hattie nach Hause ging, sie auch dort wieder kochen und putzen musste. Und Mrs. Whitlock allein reichte schon aus, um sich graue Haare wachsen zu
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