Sommer der Entscheidung
nächsten Gelegenheit danach fragen. Offenbar steckte noch mehr hinter der Geschichte ihrer Eltern.
Cissy runzelte die Stirn, als habe sie gerade entdeckt, wie ihre letzte Bemerkung geklungen haben mochte. „Niemand sagt, ich bin eine Last. Ich möchte nicht, dass Sie schlecht von Mr. und Mrs. Claiborne denken. Sie waren gut zu mir. Sehr nett. Sie behandeln mich, als wäre ich ein echtes Familienmitglied.“
Tessa wollte das Mädchen fragen, warum sie kein echtes Mitglied sei. Warum heirateten die beiden nicht einfach? Vernunft? Egoistische Gleichgültigkeit ihrem Kind gegenüber? Lebten sie nicht in einer Zeit, in der die Ehe unwichtig war und das Wort „unehelich“ keine Rolle mehr spielte?
„Wie hast du Zeke kennengelernt?“, fragte Tessa stattdessen. Sie hoffte, dass Cissy mit einem unverfänglicheren Thema mehr anfangen konnte.
„Er spielte die Geige in einer Band drüben in Mt. Jackson, und ich bin hingegangen, um mir das Konzert anzuhören. Und als Nächstes – jetzt bin ich hier.“
Tessa dachte, es gäbe vielleicht noch ein bisschen mehr dazu zu sagen, weil Cissy kurz vor der Entbindung stand. „Ich habe heute darüber nachgedacht, wie Frauen und Männer sich zusammentun. Was an Zeke hat dir so gefallen, dass du dich in ihn verliebt hast?“
Cissy rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Er war nett zu mir. So nett, wie sonst niemand zu mir gewesen ist.“
„Ich kenne Zeke nicht, aber was ich von ihm gesehen habe, gefällt mir. Er scheint wirklich ein guter Kerl zu sein.“
Cissy sah Tessa an. „Wirklich?“
„Zuerst war ich mir nicht so sicher.“
„Warum?“
„Ich war mir nicht sicher, ob er dich so behandelt, wie es eine Frau verdient hat, behandelt zu werden.“
„Niemand hat mich jemals so gut behandelt wie Zeke. Ich habe das Gefühl, es ist richtig so. Als ob alles so kommt, wie es kommen muss, wenn er einen Raum betritt.“
Es war nicht die romantischste Definition von Liebe, die Tessa jemals gehört hatte, aber letztlich war sie so zutreffend wie jede andere auch. Sie hatte ja schließlich früher genauso über Mack gedacht.
„Ich habe über Zeke geschrieben“, sagte Cissy. Tessa konnte nicht erkennen, ob sie rot wurde oder ob es die Hitze und ihr Teint waren, aber sie war sich ziemlich sicher.
„Ich würde es gern lesen“, bot Tessa an.
„Es ist keine Liebesgeschichte oder so. Überhaupt nicht.“ Cissy wühlte in ihrer Tasche, einer alten Strohtasche, die groß genug war, um darin ein Brötchen für die Mittagspause, ein ganzes Abendessen und einen Mitternachtssnack unterzubringen. „Hier, bitte.“
Tessa streckte ihre Hand aus. Sie hatte Angst, dass, wenn sie die Seiten nicht aus Cissys Hand nehmen würde, das Mädchen sie ihr nicht geben würde.
Cissy legte ihr die Seiten langsam und bedeutungsschwer in die Handfläche. Ihre Handschrift war übertrieben exakt. Wie die Handschrift einer Fünftklässlerin, dachte Tessa und sah ein Heft mit Hilfslinien vor sich, die die Unter- und Oberlängen genau begrenzten. Tessa las die Seiten langsam, dann lächelte sie.
„Cissy, was für gute Ideen du hast!“
Cissy rutschte auf der Stuhlfläche nach vorn. „Sie sagen das doch nicht einfach nur so, oder? Als ich in der Schule war, hat kein Mensch zu mir gesagt, dass ich gute Ideen habe.“
„Das ist schade. Ich bin nicht ganz sicher, was sich deine Lehrer gedacht haben. Vielleicht haben sie nur auf die Grammatik und Rechtschreibung geachtet. Einige Lehrer sind so.“ Tessa hatte Angst, bald eine von ihnen zu werden.
Cissy hatte zwei der männlichen Hauptfiguren aus Tess von Urbervilles genommen und ihre Handlungen und Persönlichkeiten mit denen von Zeke verglichen. Es war nicht herausragend gelungen und musste noch überarbeitet werden. Aber Cissy hatte genau die Schwächen und Stärken der drei Männer erkannt und verglich sie auf eine Art und Weise, die sensibel und zugleich kreativ war.
Die junge Frau würde von einer Diskussion in einer Klasse profitieren, ihre Einschätzung bekäme einen größeren Horizont. Aber auf alle Fälle hatte das Mädchen die wichtigsten Charakteristika von Hardys Figuren erkannt und interessante Schlussfolgerungen daraus gezogen. Sie wäre Tessas Lieblingsschülerin in der Englischklasse geworden – eine scharfsinnige und eigenwillige Beobachterin, die ihre Meinung auf sinnvolle Weise auszudrücken verstand.
„Ich sage dir was“, wandte sich Tessa an Cissy. „Lass uns einfach unsere Zeit in zwei Hälften teilen. Wir
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