Sommer der Entscheidung
Nancy schien wirklich an Tessas Antwort interessiert zu sein, wie sie auchimmer lauten mochte.
„Ich verstehe, dass du dir Sommerkleidung gekauft und dir die Haare kürzer geschnitten hast, Mom. Es ist im Haus so heiß wie in der Hölle. Ich bin selbst kurz davor, mir die Haare abzuschneiden.“
„Wehe!“
Tessa grinste. „Die alte Nancy sagt das.“
„Nein. Du hast so schöne Haare. Es steht dir so gut. Und du kannst dir einfach einen Zopf machen und musst dich nicht weiter darum kümmern. Ich war es leid, so ein Aufhebens um die Haare zu machen. Früher, als deine Großmutter noch ein Mädchen war, ließen sich die Frauen ab einem gewissen Alter gehen. Na, das habe ich nie gemacht, aber jetzt habe ich keine Lust mehr, etwas vorzugeben, was ich nicht bin.“
„Du siehst noch nicht alt aus. Du hast dir die Haare schneiden lassen und dir bequeme Sachen zum Anziehen gekauft. Du siehst gut aus. Dad wird es bestimmt auch gefallen. Er hat letztens angerufen und gesagt, er käme einmal und würde hier schlafen, damit wir frühmorgens Vögel beobachten können. Er hat einen Termin mit einem Kunden in Harrisonburg zum Abendessen, danach kommt er her.“
Tessa hatte erwartet, dass diese Ankündigung einige Aktivitäten nach sich ziehen würde, aber Nancy schien die Nachricht kaum zu registrieren.
„Ich fühle mich sehr gut.“ Nancy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. „Früher habe ich Ärger bekommen, wenn ich mich so hingefläzt habe. Deine Großmutter hätte einen Anfall bekommen.“
„Gram hatte Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern?“
„Nicht meine Mutter. Billys. Großmutter Caroline.“
Das verstand Tessa. Ihre Großmutter väterlicherseits wareine kleine Person mit fragilem Knochenbau gewesen, sie hatte einen langen Hals und dünne Beine gehabt, ein Schwan mit einem dazu passenden Temperament. Sie sah immer ruhig, sogar würdevoll aus, aber sie konnte arg zuschnappen, wenn ihr jemand zu nahe gekommen war. Tessa hatte schon als Mädchen gelernt, ihr nicht über den Weg zu laufen oder ihr irgendetwas Wichtiges zu erzählen. Mit diesen Regeln kamen die beiden gut zurecht, bis Caroline dann früh mit fünfundfünfzig Jahren an Brustkrebs verstarb.
„Du hast ja bei ihnen gewohnt, bevor ich geboren wurde“, sagte Tessa. Dieser Abschnitt aus dem Leben ihrer Mutter war ihr wenigstens ein wenig bekannt. Die Familie hatte höflich über diese Zeit gesprochen, wenn auch selten.
„Das war das schlimmste Jahr meines Lebens.“ Nancy schüttelte ihre Sandalen von den Füßen, schob sie auf die Sitzfläche und setzte sich darauf; genauso, wie sie ihrer Tochter beigebracht hatte, es gerade nicht zu tun.
„War es schwierig, mit ihr zu leben?“, fragte Tessa.
„Es war auch schlimm mit deinem Großvater. Harry trank. Regelmäßig, gleich nach dem Aufstehen. Je später der Tag wurde, desto ruhiger und kontrollierter war er. Er bewegte sich wie eine chinesische Kurtisane aus dem neunzehnten Jahrhundert, deren Füße gebunden waren, mit winzigen Tippelschritten …“ Nancy bewegte ihre Finger auf der Armlehne, als würden sie laufen. „Und wenn es Zeit war, zu Abend zu essen, hatte er nichts mehr zu sagen. Caroline zankte dann heftig mit ihm, und er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Sie schimpfte auch mit mir, aber er schien es nicht zu bemerken.“
Nancy hielt inne. „Aber ich sollte dir das alles eigentlich gar nicht erzählen, Tessa. Sie waren deine Großeltern.“
Keiner als Tessa wusste besser, welche Folgen Alkohol haben konnte. Tessa spürte, wie sie schneller atmete, als würdesie innerlich protestieren. „Dad hat früher auch ziemlich viel getrunken.“
„Ja, das stimmt. Aber er trinkt seit Jahren nicht mehr.“
„Seit drei Jahren, um genau zu sein“, stellte Tessa fest. Ihr Vater hatte keinen einzigen Drink mehr zu sich genommen, seitdem Kayley gestorben war.
„Stimmt. Aber Billy ist nie gefahren, wenn er etwas getrunken hatte. Und Harry hat das auch nicht getan. Früher hatten sie einen eigenen Fahrer, Randall. Er fuhr Harry überall hin, sorgte dafür, dass er abends ins Bett kam, und mixte ihm morgens seinen ersten Drink. Ein bezahlter Lakai.“
Tessa schnitt vorsichtig einen Faden durch, dann noch einen. „Wie war das, als du dort bei ihnen gewohnt hast? Und warum bist du eigentlich eingezogen? Sagtest du nicht, du wolltest Dad dabei helfen, Geld für das College zu verdienen? Wolltest du nicht mit ihm in Charlottesville
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