Sommer der Entscheidung
schauen uns die einfachen Sachen wie Zeichensetzung und Grammatik an, damit wir das aus dem Weg haben, und dann reden wir darüber, wie du deine Gedanken ausdrückst. Das ist der Nachtisch. Weil du es so gut gemacht hast.“
Cissys Lächeln verwandelte den verschwitzten, verzagten Teenager in eine Madonna. „Und das sagen Sie nicht nur so?“
Tessa musste auch lächeln. „Nein, ich meine es so. Ich habe nie die Energie zu lügen. Ich kann’s einfach nicht, auch nicht, wenn es nicht so heiß ist.“
Cissys Lachen war tief und rau und klang erwachsener, als Tessa angenommen hätte.
Helen war an diesem Abend früh ins Bett gegangen. Nach Cissys Quilt-Unterricht hatte sie Tessa im Obstkeller geholfen, die Einmachgläser zu sortieren und zu schauen, welche noch zu gebrauchen waren. Das hatte sie erschöpft. Sie war immer noch eine kräftige Frau, aber Essen wegzuwerfen, das noch gut zu sein schien, auch wenn es schon zehn Jahre alt war, das zehrte an ihren Kräften. Gleich nach dem frühen Abendessen ging sie hoch in ihr Zimmer und kam auch nicht wieder herunter.
Gegen sieben Uhr nahm Tessa den Wedding-Ring-Quiltmit nach draußen auf die Veranda, wo das Licht noch zum Nähen ausreichte. Sie machte es sich auf der Schaukel bequem und breitete den alten Quilt über ihrem Schoß und bis über die hölzernen Stuhllehnen aus. Sie hatte schon drei Flicken mit neuem Stoff ersetzt, der dem alten recht ähnlich war. Es war ihr relativ gut gelungen. Die Flicken waren auf die rechte Stelle gesetzt worden, wo sie mit großen Sicherheitsnadeln an das Vlies und den Unterstoff geheftet wurden. Sobald sie die restlichen Stoffstücke ersetzt hatte, würde sie alles wieder mit den Quilt-Stichen zusammennähen, wo die Nähte aufgetrennt waren.
Sie hatte Glück, dass dieser Quilt Nancys erstes und einziges Projekt gewesen war. Tessa konnte die Stiche ihrer Mutter imitieren, jedoch nicht diejenigen ihrer Großmutter, die winzig und kerzengerade waren. Nancys Stichen waren ihrer Persönlichkeit ähnlich: unterbrochen, übertrieben, aber dabei waren sie nicht von dem Wunsch getragen, jemandem zu gefallen.
Ein Auto fuhr langsam die Straße herunter, und als Tessa aufsah, erkannte sie den Wagen ihrer Mutter.
Einige Minuten später kam Nancy auf die Veranda. „Brauchst du Gesellschaft?“, fragte sie.
Tessa war erstaunt, wie anders ihre Mutter aussah. Nancy hatte das Abendessen ausfallen lassen. Sie hatte angerufen, um ihnen zu sagen, dass sie nicht auf sie warten sollten. Jetzt konnte Tessa sehen, warum sie beim Abendessen nicht dabei war und was ihre Mutter stattdessen gemacht hatte. „Wow!“
Nancy war beim Friseur gewesen. „Ich habe mir in der Stadt die Haare schneiden lassen. Ich habe ihr gesagt, sie soll alles absäbeln, und das hat sie wahrlich getan. Dann bin ich einkaufen gegangen.“
Vor Tessa stand eine neue Nancy. Der Haarschnitt standihr gut. Er war nicht männlich, aber sehr kurz. Und sie hatte Locken. Locken! „Du hast lockige Haare?“, frage Tessa erstaunt.
„Tja, es sieht ganz danach aus. Das hätten wir also. Ich habe die Locken die ganze Zeit ausgebürstet und glatt geföhnt und wer weiß was alles angestellt, bis ich nicht mehr wusste, wie ich eigentlich aussehe. Nun muss ich es morgens nur mit den Fingern durchwuscheln, und dann bin ich fertig.“
„Und du warst einkaufen?“
„Shorts, T-Shirts, Gummilatschen.“ Nancy stand auf einem Bein und bewegte ihren anderen Fuß in billigen Badelatschen. Zwischen den Zehen prangte ein riesiges Gänseblümchen aus Plastik. „Zwei neunundneunzig. Ich wollte sie so gern haben, ich habe drei Paar gekauft und diese hier gleich im Auto angezogen.“
Sie wühlte in einer Einkaufstasche und hielt einige ihrer Einkäufe hoch. Die kurzen Hosen waren von einem hellen Zitronengelb. Das T-Shirt hatte gelbe, rote und schwarze Querstreifen. Querstreifen – gegen die hatte Nancy ihr Leben lang gewettert.
Tessa bemühte sich, nicht zu lächeln. „Auch wenn ich es riskiere, dass du gleich eine Herzattacke bekommst, aber du siehst süß aus.“
„Süß? In meinem Alter? Das ist ja etwas.“
„Ist das deine Midlife-Crisis?“
„Ich bin über die Mitte meines Lebens hinaus, stimmt’s?
Ich habe nicht vor, einhundertzwanzig Jahre alt zu werden.“
„Du hast dich sehr verändert.“
Nancy setzte sich ihrer Tochter gegenüber auf einen Stuhl. „Ich hatte es einfach satt, mir immer so viel Mühe zu geben. Verstehst du das?“
Die Frage war keine Bitte um Verständnis.
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