Sommer der Entscheidung
tun können? Ich wusste, dass es Tessa noch viel trauriger gemacht hätte, wenn sie ihn gesehen hätte.“
„Genau wie der Wedding-Ring-Quilt.“
Helens Stimme kippte. „Sie war doch noch so klein. Sie hatte doch niemandem etwas Böses getan.“
Nancy stand auf und ging zu Helen hinüber. Sie legte ihren Arm um ihre Schultern und spürte, wie Helens Körper sich unter dem Schluchzen bewegte. „Ich vermisse sie auch.“ Nancy versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht.
Helen nahm auch sie in den Arm, und die beiden hielten sich für eine ganze Weile umschlungen.
„Du musst ihn fertig machen“, sagte Nancy schließlich.
„Nein, ich lege ihn weg, und dabei bleibt es.“
Aber Nancy war anderer Meinung. „Dann gib mir die Flicken.“
„Warum?“
„Ich weiß nicht. Aber ich möchte sie aufbewahren. Jemand sollte sie eines Tages anschauen, um sich an Kayley zu erinnern.“
Es war offensichtlich, dass Helen mit sich rang, aber schließlich stimmte sie zu. „Ja, behalt sie ruhig.“
Nancy ging ein wenig zurück, um Helen anzusehen. Sie fuhr mit der Fingerspitze die Linie nach, die eine Träne auf Helens Gesicht zurückgelassen hatte. „Lass uns schauen, was wir heute zum Abendessen machen können.“
„Wenn Tessa Brombeeren gefunden hat, backen wir einen Kuchen“, beschloss Helen.
„Und essen alles auf einmal auf. Das hört sich nach einem guten Abendessen an.“
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28. KAPITEL
M ontag früh regnete es leicht. Der Regen reichte gerade aus, um die Luft anzufeuchten, aber für Tessa war es schon ein Fortschritt. Die Wolken hatten nicht vergessen, wozu sie da waren. Sie waren nur ein wenig eingerostet, ein wenig aus der Übung. Aber dass es regnete, und sei es noch so wenig, schien ein gutes Zeichen zu sein.
Sie hörte hinter sich Schritte, aber Tessa drehte sich nicht um, um zu sehen, wer es war. Sie erkannte das Quietschen der neuen Gummilatschen ihrer Mutter.
Nancy stellte sich neben sie auf die Stufen der Veranda, wo der Regen auch ihre Wangen benetzen konnte. „Du bist ja noch früher auf den Beinen als sonst, Schätzchen. Ist es zu feucht, um joggen zu gehen?“
Tessa lächelte ihre Mutter an. „Weißt du, wo ich heute Morgen eigentlich sein müsste?“
„Ich hatte mich schon gefragt, was mit deinem Unterricht ist. Fängt das Semester nicht schon an?“
„Ich nehme mir dieses Schulhalbjahr frei.“ Tessa schlang ihre Arme um ihren schmalen Körper, obwohl es das Gegenteil von kalt war. „Vor zwei Wochen habe ich meinen Direktor angerufen, und er hat dafür gesorgt, dass ich eine Vertretung bekomme. Sie ist jemand, die ich kenne, und diese Frau ist eine gute Lehrerin. Den Kindern wird es dadurch nicht schlechter gehen, wenn ich ein halbes Jahr aussetze. Aber normalerweise hätte ich heute wieder Vollzeit angefangen zu unterrichten.“
„Weißt du, ich hätte das hier schon allein fertig gemacht. Niemand erwartet von dir …“
„Darum geht es nicht.“
„Worum dann?“
Tessa starrte hinaus in den Regen. Dunst stieg von dem ausgedörrten Boden auf und kam dem Regen ein Stückchen entgegen. Der Ahorn im Vorgarten war hinter einem sanften grauen Schleier verborgen. Ein ganz klein wenig konnte man einen leichten Sonnenstrahl erahnen, der hinter einer Wolke hervorkam.
„Ich bin nicht mehr gut in dem, was ich mache“, sagte Tessa schließlich. „Ich habe nicht mehr so unterrichtet, wie ich sollte, seitdem Kayley tot ist.“
„Du hättest nach dem Unfall länger Pause machen sollen.“
Das konnte Tessa nicht leugnen. Sie war drei Wochen nach Kayleys Unfall wieder in die Schule gegangen und hatte die Kondolenzwünsche ihrer Kollegen und Schüler mit einem frostigen Nicken entgegengenommen. Die Beileidskarten hatte sie ungeöffnet in eine Schublade geschoben und ihre Schüler aus ihrem Herzen verbannt, weil es zu sehr schmerzte, sich um sie zu kümmern und sie zu fördern.
Sie versuchte, ihrer Mutter ihre Entscheidung zu erklären. „Ich habe ihm gesagt, dass ich Zeit brauche, um herauszufinden, wie ich wieder die alte Lehrerin werde, die die Kinder brauchen. Oder ich höre ganz auf. Aber ich brauche für diese Entscheidung mehr Zeit.“
„Was wirst du tun? Wir werden hier in einer Woche oder so mit dem Haus fertig sein.“
„Gram braucht uns länger.“
„Das ist selbstverständlich. Aber sie braucht uns nicht hier. Wir müssen nicht länger vor Ort wohnen. Wir werden sie beide viel
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