Sommer der Entscheidung
Stillsitzen schwer. Von Zeit zu Zeit strich sie über ihren dicken Bauch, als wolle sie ihr ungeborenes Kind beruhigen.
Der Text war nicht leicht zu lesen. Cissy hatte die grundlegenden Informationen ohne viel Aufhebens dargestellt. Weder sie noch ihr kleiner Bruder waren Wunschkinder ihrer Mutter. Es gab einen Vater, der gelegentlich auftauchte, jedoch nie über Geld verfügte. Die Großmutter, bei der Cissy aufwuchs, liebte sie. Auch um den Bruder kümmerte sich die Oma, aber als sie nicht mehr mit ihm zurechtkam, wurde er zu einer Pflegefamilie gegeben. Cissy beschrieb den Tag, als sie erfuhr, dass ihr Bruder von einer anderen Familie adoptiert und sie ihn nie wiedersehen würde. Der Tag, an dem ihre Großmutter starb. Der Tag, an dem sie mit ihrer emotional überforderten Mutter und ihrem neuen Stiefvater, der übermäßig trank, in eine viel zu kleine Wohnung einzog.
Dann Zeke, der ihr einsames Leben umkrempelte, der sichum sie kümmerte, der ihr sagte, dass sie hübsch sei und der ihr Blumen und Kuscheltiere schenkte. Der sie schließlich ganz in sein Herz schloss und mit in sein Bett nahm.
Tessa machte eine Pause, bevor sie die nächste Seite las. Sie holte tief Luft. Cissy war sicher, ihren Prinzen in der schimmernden Rüstung gefunden zu haben, und zu Cissys Wohl wünschte sich Tessa, dass es stimmte. Tessa mochte Zeke, aber sie waren beide so jung. So unglaublich jung. Und das Baby war unterwegs, und sie trugen beide keinen Trauring.
Sie drehte die Seite und las die letzten Absätze, und für einen Moment verstand sie ihren Sinn nicht. Der Rest der Geschichte war sorgfältig in Prosa geschrieben, Cissys Schrift war klar und deutlich zu lesen. Doch nun war sie fast unleserlich, als habe das Mädchen die letzte Seite nach einiger Überlegung in aller Eile angefügt. Einige Worte waren falsch geschrieben. Es gab keine Interpunktion. Aber schließlich schnitt der Inhalt dieser Seite Tessa ins Herz, nicht die Form.
„Oh Cissy.“ Tessa ließ die Seiten sinken und sah das Mädchen an. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Ich auch nicht.“ Cissy stand mit dem Rücken zu ihr, sie hatte ihre Schultern hochgezogen. „Und darum habe ich es auch bis jetzt niemandem erzählt.“
„Wer ist dieser Lucas?“
„Ein Freund von Zeke, oder jedenfalls dachte Zeke das. Sie sind zusammen zur Schule gegangen.“
„Wie … ist das passiert? Oder magst du mir das überhaupt erzählen?“
„Zeke und ich waren schon eine Weile zusammen gewesen. Sechs Monate, glaube ich. Wir waren glücklich. Zum ersten Mal, seitdem meine Großmutter gestorben war, war ich glücklich. Ich wollte mit ihm zusammen sein. Mit ihm fühlte ich mich so gut, so besonders, und wir waren die meiste Zeitvorsichtig beim … na, Sie wissen schon. Wir wussten, dass wir noch zu jung für ein Baby waren.“
Cissy sah Tessa an. „Und eines Tages gab es da diese Party, und dieser Lucas war auch dort. Zeke musste weg. Seine Mutter musste plötzlich ins Krankenhaus. Sie war von einer Spinne gebissen worden, und der Biss schwoll so an, dass sie behandelt werden musste. Zekes Dad hatte ihn angerufen, um ihm zu sagen, wo sie hinfuhren. Zeke wollte, dass ich mit ins Krankenhaus kam, aber ich war mir nicht sicher, ob seine Eltern das so gut finden würden, wenn ich mitkomme. Sie kannten mich noch nicht gut, und ich hatte das Gefühl, ich wäre dann im Weg.“
Tessa konnte sich vorstellen, dass Cissy sich in ihrem Leben meistens „im Weg“ gefühlt hatte.
„Du bist auf der Party geblieben?“
„Lucas sagte, er würde mich nach Hause fahren, wenn die Feier vorbei wäre, und Zeke war so besorgt um seine Mutter, dass er sagte, es sei in Ordnung. Nur, als es Zeit zu gehen war, hatte Lucas so viel getrunken, also habe ich gesagt, ich fahre. Ich wollte ihn bei sich zu Hause absetzen und dann mit seinem Wagen dorthin fahren, wo ich gerade gewohnt habe. Nur, als wir bei Lucas’ Haus ankamen, sagte er, dass er es nicht allein schaffte, ins Haus zu kommen.“
Einen Moment lang wünschte Tessa sich, sie hätte Cissy nie danach gefragt, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Dann schaute sie das Mädchen an. In ihrem Blick sah sie, wie sehr Cissy das Bedürfnis hatte, darüber zu reden.
„Und dann hat er dich vergewaltigt.“ Tessa versuchte, es Cissy leichter zu machen, indem sie das Wort als Erste aussprach.
„Ich habe versucht, von ihm wegzukommen. Aber er ist groß. Fast zwei Meter. Und stark. Und er hatte so viel getrunken, dass ich nicht sicher
Weitere Kostenlose Bücher