Sommer der Entscheidung
ihr Haus bei reibungslosem Verkehr in nur eineinhalb Stunden zu erreichen war, hatte sie keine Lust, sich auf den Weg zu machen. Sie und Nancy mussten so viel es ging aufräumen, bevor es sich Helen anders überlegte und sie hinauswarf.
Unten war Nancy dabei, das Waschbecken zu polieren, und starrte dabei aus dem Küchenfenster. Sie drehte sich nicht um, als Tessa hereinkam.
„Hast du eine Ahnung, wie viel Geschirr ich schon in diesem Waschbecken abgewaschen habe?“, fragte Nancy.
„Ich wette, es ist immer noch dasselbe Waschbecken.“
„Wahrscheinlich ist es genau das, das damals auf Eselskarren hier raufgeschafft wurde.“
„Gab es irgendetwas , was du gemocht hast, als du hier gelebt hast?“ Tessa wusste, dass ihre Stimme müde klang, sie hatte zu wenig geschlafen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihr Zimmer jetzt ordentlich aussah.
„Wenn du so fragst, nein.“ Nancy spülte eine Tasse ab und beschäftigte sich damit länger als nötig. „Da ist Kaffee, er ist noch heiß.“
„Ich bringe Gram eine Tasse hoch, sie ist schon wach.“
„Tessa, lass das. Wir sind nicht hier, um sie zu bedienen. Sie kann auch herunterkommen und sich einen Kaffee holen, wenn sie will.“
„Aber sie ist alt, verwirrt, aufgeregt. Ich …“
„Du wirst es nicht besser machen, wenn du sie behandelst, als wäre sie eine dieser Sachen hier.“ Nancy sah ihre Tochter an und knetete dabei ihre Hände. Sie hatte schon geduscht, und ihre Haare und ihr Make-up waren frisch gerichtet. Tessa fragte sich, wann ihre Mutter wohl aufgestanden sein mochte, um diesen perfekten Zustand zu erreichen.
„Sieh mal“, sagte Nancy, „ich glaube, ich weiß es besserals du. Sie will nicht, dass man sich um sie kümmert, okay?“
„Dann sollen wir sie also ignorieren?“
„Darüber wird sie sich nicht beschweren. Wir sind ihretwegen hier, oder? Wir verbringen unseren ganzen Sommer auf dieser Farm, damit sie es besser hat.“
„Mein Leben ist gut so, wie es ist.“ Helen humpelte in die Küche. Tessa hatte noch nicht einmal gehört, dass sie die Treppe heruntergekommen war. Für solch eine große Person bewegte sie sich extrem leise. „Ich habe euch nicht um Hilfe gebeten.“
„Ich habe uns Kaffee gemacht“, sagte Nancy. „Passend zur drohenden Auseinandersetzung.“
„Kein Streit!“ Tessas Ton war scharf. Sie war selbst überrascht. „Seht mal, ihr beiden, ich weiß zwar nicht, warum ihr so miteinander umgeht, aber ich spiele da nicht mit. Wir haben hier eine Aufgabe, die uns mindestens einen Monat kostet, wenn nicht gar zwei …“
Helen fiel ihr ins Wort. „Ich wollte nicht …“
Tessa hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Es tut mir leid, Gram, aber es ist uns egal, ob du uns gebeten hast zu kommen oder nicht. Wir sind hier, und wir bleiben hier. Wenn wir wegfahren, wirst du das Haus nicht wiedererkennen. Die Situation lässt sich also nicht umgehen. Wir können uns vertragen oder auch nicht, und so, wie ich die Sache sehe, ist es eure Entscheidung. Aber wenn ihr aufeinander einhacken müsst, dann macht das, wenn ich nicht dabei bin, okay? Ich will es einfach nicht mit anhören.“
Sie verließ das Haus durch die Hintertür und ging einfach drauflos. Bevor sie es wusste, wurde sie immer schneller, bis sie rannte. Laufen war für sie nie eine Möglichkeit gewesen, um sich zu beruhigen. Bis Kayley starb, half ihr Yoga, mit dem üblichen Stress eines normalen, glücklichen Lebens klarzukommen. Nach dem Tod ihrer Tochter konnte sie sichnicht mehr konzentrieren, und Yoga schien sinnlos – wie alles andere auch.
Sie lief die Fitch Crossing Road hinunter, rannte die Hügel herauf und herab, bevor sie überhaupt darüber nachdachte, was sie da tat. Auf einmal ergab das Laufen einen Sinn. Und auch im übertragenen Sinne war es unschlagbar.
Tessa war sich nicht sicher, wie weit sie gekommen war, als sie von der Hitze und der ungewohnten Anstrengung eingeholt wurde. Sie lief langsamer, dann ging sie einfach nur noch schnell. Sie war schon über das Grundstück ihrer Großmutter hinaus. Die Felder waren hier gepflegter, als sei erst vor kurzem gepflügt worden, auch wenn die Maisfelder, die sich von der Straße bis zum Fluss erstreckten, nicht gerettet werden konnten. Tessa vermutete, dass sie bis zur Claiborne Farm gelaufen war.
In einiger Entfernung sah sie rechts von sich ein Backsteinhaus, und davor standen mehrere Autos aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Ein kleiner Wohnwagen stand hinter dem Haus,
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