Sommer der Entscheidung
entdeckt. Auf deiner Seite.“
„Ich weiß. Ich weiß allerdings nicht, wie ich ihn dort vergessen konnte. Ich glaube, ich war so mit Gram beschäftigt.“
„Wie geht es ihr?“
„Du glaubst nicht, wie es hier aussieht. Das Haus ist eine Katastrophe.“
„Lässt sie euch helfen?“
Mack hatte Helen Henry immer gemocht, auch wenn er Nancy nicht übermäßig leiden konnte. Als Rechtsanwalt war es sein Beruf, den Dingen auf den Grund zu gehen – und den Menschen. Mack hatte in Helen etwas entdeckt, das den anderen entgangen war. Ihm hatten die Ausflüge aufs Land Spaß gemacht, und er hatte sie dazu genutzt, Kayley etwas über Bauernhöfe und Landwirtschaft zu erzählen. Mit Helen konnte er über das Wetter oder die Fleischpreise des Schlachtviehs reden wie ein Bauer, der mit seinen Kumpels bei der lokalen Southern States Co-op einen Plausch hält. Jetzt aber hörte Tessa die Besorgnis in seiner Stimme. Sie schämte sich ein bisschen, dass sie ihn bislang nicht angerufen hatte, um zu erzählen, wie es lief.
„Sie ist nicht gerade glücklich über unsere Anwesenheit“, sagte Tessa, „aber bis jetzt lässt sie uns die Zimmer zumindest ausräumen.“
„Ausräumen?“
„Du glaubst nicht, was sie alles angesammelt hat. Es ist Wahnsinn, Mack. Es ist nicht so, dass wir einfach nur ein wenig Staub wischen und die Fenster putzen müssen.“
„Hört sich an, als hättest du für eine Weile alle Hände voll zu tun.“
Sie fragte sich, ob ihn das eher beunruhigen oder freuen würde. „Ich schätze, ich komme erst Ende August zurück, bevor die Schule wieder anfängt.“
„Dann brauchst du den Koffer bestimmt.“
Sie hatte nicht erwartet, dass er über ihre Abwesenheit traurig war, aber seine deutliche Sorglosigkeit versetzte ihr einen Stich. Sie war sich nicht ganz klar darüber, woher das kam.
Doch er schien auch zu bemerken, was er nicht gesagt hatte. „Sobald ich heute hier weg kann, mache ich mich auf den Weg und bringe dir den Koffer. Brauchst du sonst noch etwas?“
„Das ist doch nicht nötig. Ich hatte vor, mich heute Nachmittag wegzuschleichen, und den Koffer zu holen.“
„Aber sie brauchen dich doch dort?“
Das konnte sie nicht leugnen.
„Ich gehe nicht zu meinem Treffen heute Abend, aber ich muss vielleicht länger im Büro bleiben. Es wird schon dunkel sein, bis ich bei euch bin.“
Sein Treffen. Freunde in schweren Stunden, die Selbsthilfegruppe, die seit dem Tod ihrer Tochter seine Stütze war. Seine, wohlgemerkt, nicht ihre. Wenn er die Gruppe ihretwegen ausfallen ließ, dann hieß das einiges.
Sie gab nach. „Ja, das wäre eine große Hilfe. Das bedeutet mir mehr, als du ahnst.“
Es herrschte wieder Stille. In der Ferne konnte sie das Haus ihrer Großmutter ausmachen. „Tja, ich bin fast zu Haus, ich war joggen, ich …“
„Joggen? Bei dieser Hitze?“
„Vielleicht fange ich ernsthaft damit an. Das wird mir guttun. Ich brauche Kraft, um das Gezanke der beiden durchzustehen.“
Sein Lachen klang nicht echt. „Pass gut auf dich auf.“
„Du auch. Bis heute Abend.“
Sie klappte ihr Telefon zusammen und verlangsamte ihren Schritt. Sie hatte sich nicht auf diesen Tag gefreut, und jetzt konnte sie sich auch nicht mehr auf diesen Abend freuen.
Sie fragte sich, ob Mack auch denselben, traurigen Widerwillen verspürte, sie zu sehen. Falls das der Fall war, war es eines der wenigen Dinge, in denen sie übereinstimmten.
Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012
4. KAPITEL
D ie Episkopalkirche, in der sich Macks Selbsthilfegruppe traf, war kühl und dunkel, eine Oase in der Realität der Welt draußen. Alle Gruppenräume waren ähnlich gestaltet: Die Außenwände bestanden aus Backstein, innen waren sie mit dunklem Holz vertäfelt. In einigen Nischen standen Skulpturen aus gedrehtem Metall zu Dekorationszwecken. Es waren nicht direkt Kruzifixe, dafür waren die Kunstwerke zu abstrakt, aber dennoch symbolisierten sie das Leiden Jesu Christi. Mack war immer der Meinung gewesen, dass sowohl der Raum als auch die Skulpturen dem Grund äußerst angemessen waren, weswegen Menschen hierherkamen: um den Tod eines Kindes zu verarbeiten.
Ein entfernter Freund hatte Mack zu seinem ersten Treffen mitgenommen. Alleine hätte er sich das niemals zugemutet. Bis dahin war er ein Mann gewesen, der seine Probleme immer allein in den Griff bekommen hatte.
Als sein Vater überraschend beim Golfen zwischen dem siebzehnten und achtzehnten Loch in Pebble Beach starb,
Weitere Kostenlose Bücher