Sommer der Entscheidung
Hades.“
Tessa berührte den Arm ihrer Großmutter mit den Fingerspitzen. „Ich habe Limonade gekauft. Warum bleibst du nicht hier unten, und ich hole uns zwei Gläser?“
„Wo ist deine Mutter hin?“
„Sie ist oben und zieht sich um.“
„Oh, hat sich ein Staubkörnchen auf ihrem Rock verfangen?“
Tessa lachte. Helen gefiel dieses Geräusch, sie hatte es in den letzten Jahren viel zu selten bei ihrer Enkeltochter gehört. Tessa hatte nach Kayleys Tod abgenommen, und neben den Pfunden hatte sie auch ihren Humor eingebüßt. Beides war einfach verschwunden.
Aber wen verwunderte das? Helen verstand es nur zu gut, obwohl sie selbst das verlorene Gewicht sehr schnell wieder zugenommen hatte, nachdem sie den Schock von Fates Tod verarbeitet hatte. Aber es war auch etwas anderes, einen Ehemann, sogar so einen wie den ihren, zu verlieren, als das eigene Kind begraben zu müssen.
Heutzutage wurden Kinder meistens erwachsen. Das war nicht immer so gewesen. Ihre Generation hatte recht viele Kindergräber gesehen. Und trotzdem konnte auch Helen nicht begreifen, dass ihre Urenkelin, die noch in der einen Sekunde lachend durch die Gegend gesprungen war, in der nächsten plötzlich nicht mehr da sein sollte.
„Möchtest du noch ein Glas Limonade?“, fragte Tessa.
Helen fühlte sich, wie Julia sich gefühlt haben musste, jedes Mal, wenn sie Romeo nachgab. „Danach gehe ich aber gleich schlafen.“
„Das verstehe ich, hier wird es früh hell.“
Helen ließ sich wieder auf das Sofa nieder. Vielleicht machte das Wohnzimmer nicht viel her, aber es gehörte ihr. Es war ein kleiner Raum, der lange nicht mehr gestrichen worden war. Aber für ihren Geschmack sahen die Wände nochganz passabel aus. Landschaftsbilder, die aus der Zeit ihrer Mutter stammten, hingen schief in ihren Rahmen. Der Kamin zog schon seit Jahren nicht mehr richtig, und die Steine waren schwarz vom Ruß. Auf dem Sims standen einige alte Uhren. Sie nahm an, dass sie einfach eine neue dazugestellt hatte, wenn eine alte aufgehört hatte zu ticken.
Abgesehen von seinen zahlreichen Mängeln sah das Zimmer besser aus, seitdem es leer geräumt war, das musste sie zugeben. Zwar entschuldigte das nicht das Verhalten von Nancy und Tessa, sicherlich nicht. Aber manchmal fand eben auch ein blindes Huhn ein Korn. Und die Tatsache, dass sie jetzt hier sitzen konnte, war ihr Glück, sagte sie sich.
Nancy kam geschäftig die Treppe herunter und strich einen grünen Rock über ihren Hüften glatt. Sie hielt auf der letzten Stufe inne und starrte ihre Mutter an. Helen wartete. Mit zusammengekniffenen Augen wartete sie einfach ab, ob ihre Tochter etwas dazu sagen würde, dass sie auf dem Sofa saß. Das würde genügen, um Helen sofort aus dem Wohnzimmer verschwinden zu lassen.
„Tessa sprach vorhin über Limonade“, bemerkte Nancy.
„Soll sie dir ein Glas mitbringen?“
„Sie weiß, dass ich hier bin.“
Nancys Haar wippte auf und ab, als sie mit dem Kopf nickte. Helen erinnerte sich an Nancy im Teenageralter und wie albern ihre Frisuren damals gewesen waren. Kämmen und eindrehen, und noch mehr Haarspray, bis die Haarspitzen genau so lagen, wie sie es gewollt hatte. Nancy hatte damals Stunden damit verbracht, etwas oder jemanden aus sich zu machen, der sie nicht gewesen war. Es war bemerkenswert, dass ihr das, zumindest oberflächlich, tatsächlich gelungen war.
„Tessa hat erzählt, dass ihr einen netten Plausch mit dem Mädchen hattet, das die Straße runter wohnt.“
Nancy sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber nichts war so einladend wie das Sofa. Sie ging ein paar vorsichtige Schritte auf ihre Mutter zu.
„Nun setz dich schon her“, grummelte Helen. „Gebissen habe ich dich nie, nicht ein einziges Mal, auch als Kind nicht.“
„Vielleicht nicht richtig, aber du hast es sicherlich ein oder zwei Mal versucht.“ Nancy ließ sich neben ihrer Mutter nieder. „Nanu … dafür beißt mich jetzt aber eine Sprungfeder.“
„Das wird dich wach halten. So lange, bis die Limonade kommt.“
Nancy verlagerte ihr Gewicht nach links und seufzte erleichtert. „Cissy heißt sie?“
„Sagt sie. Schwanger wie eine Zuchtstute im März. Kein Ehering.“
„Mutter, das hast du ihr aber nicht gesagt, oder?“
„Glaubst du nicht, ich kann meine Zunge im Zaum halten, wenn es angebracht ist?“
Nancy zog die Augenbraue hoch. „Genau das meine ich.“
Helen konnte nicht anders, sie musste lachen. „Na ja, wenigstens habe ich es dieses Mal
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