Sommer der Entscheidung
nicht.“
„Hast du ihre Quilts noch?“
„Sie wurden verkauft. Alles wurde auf einer Auktion verkauft, nachdem sie gestorben war. Ich habe nur einige Kleinigkeiten behalten, die niemand haben wollte.“
Tessa konnte spüren, wie sie in die Lebensgeschichte des Mädchens hineingesogen wurde. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie beschloss, dem Gespräch ein Ende zu machen.
„Soll ich dich nach Hause fahren, Cissy?“
„Ach nein, der Arzt sagt, ich soll mich viel an der frischen Luft bewegen. Ich kann ja langsam gehen.“
„Guten Abend, dann.“ Tessa nahm ihre Großmutter am Arm und drehte sich energisch zum Haus. Helen verabschiedete sich widerwillig, und die beiden Frauen gingen schweigend die Auffahrt hinauf.
„Das Mädchen ist ja selbst noch ein Kind“, sagte Helen. „Was bekommt sie jetzt schon ein Baby? Was für eine Mutter wird sie werden?“
Tessa wollte nicht im Geringsten darüber nachdenken.
Dieses E-Book wurde von "Lehmanns Media GmbH" generiert. ©2012
5. KAPITEL
A ls sie ins Haus zurückgekehrt waren, versuchte Helen zu nähen, aber es gelang ihr nicht. Sie arbeitete immer gleichzeitig an mehreren Decken, so dass sie zu einem anderen Muster wechseln konnte, wenn ihr bei einem langweilig wurde. Es war für sie eine Art Luxus, einen Quilt nicht fertig zu stellen, bevor sie einen weiteren anfing. Es war eins der wenigen Dinge, die sie tat, nur weil sie sich gut anfühlten. Sich selbst solch einen Gefallen zu tun war fast sündig, aber trotzdem gönnte Helen sich das. Es gefiel ihr.
Doch heute Abend half es auch nichts, dass sie das Quilten beiseitelegte und mit einer Applikationsstickerei anfing. Ihre Augen waren müde, und die winzigen Stiche, mit denen sie jede einzelne Weihnachtsrose festnähte, verschwammen vor ihren Augen. Nicht einmal ihr spezielles Vergrößerungsglas erfüllte in diesem Moment seinen Zweck. Auch tat ihre Hand weh, und der Schmerz ließ sich nicht mehr ignorieren. Sie war zu alt, um noch so viele Stunden am Tag zu nähen.
Als sie das Stück, mit dem sie gerade beschäftigt war, zurück in den Korb legte, kamen die anderen von der Veranda herein. Nancy ging die Treppe rauf in den ersten Stock, aber Tessa war noch unten und machte sich am Fliegengitter der Tür zu schaffen.
Nachdem Helen nun nicht mehr allein im Haus war, hätte sie sich gerne zurückgezogen, aber ihr Schlafzimmer hatte eher etwas von einem Grab als von einem Refugium, und auch dort mussten die Fliegengitter repariert werden. Es gab nur ein Fenster, das sie öffnen konnte, ohne dass jedes einzelne Insekt aus dem ganzen County hereinkam und sie zerstach. Sie hatte schon lange vorgehabt, das Gitter zu flicken, hatte es aber nie geschafft – wie so vieles andere.
Das Wohnzimmer war schön geworden, dachte Helen bei sich. Laut hätte sie das natürlich nie zugegeben. Sie würde Tessa und Nancy nicht so leicht verzeihen, dass sie ihre Sachen einfach auf den Anhänger geworfen hatten. Sie hatte sich vorgenommen, hinauszugehen, um dort nach Dingen zu suchen, die sie behalten wollte, bevor der Anhänger weggefahren wurde. Nur hatte sie es bisher nicht geschafft.
Sie nahm an, es lag an der Sommerhitze. In den letzten Tagen war es heißer gewesen als irgendeinen Sommer zuvor, an den sie sich erinnern konnte. Das war sicher der Treibhauseffekt. Wenn die Menschen nicht so geldgierig wären, wenn sie nicht alles besitzen wollten, was sie sahen, wenn sie gelernt hätten hauszuhalten, so wie sie es tat, dann wäre die Erde jetzt kein Treibhaus. Der Regen würde so fallen, wie es sich gehörte, und sie könnte sich um ihre Angelegenheiten kümmern.
Sie hatte lange nicht mehr im Wohnzimmer auf ihrem Sofa gesessen. Es war zwar alt, aber immer noch bequem, solange sie die Stellen mied, an denen die Sprungfedern durch den Bezug stachen. Das könnte sie auch reparieren, wenn es erst einmal etwas kühler war.
„Ich kann verdammt noch mal alles reparieren, was du mir vor die Nase setzt, wetten?“
„Entschuldigung, Gram, was hast du gesagt?“
Helen fühlte sich ertappt. Was genau hatte sie gesagt? Wann hatte sie angefangen, mit sich selbst zu reden, während andere Menschen dabei waren?
Tessa stand neben dem Sofa und sah ihre Großmutter ganz selbstverständlich an. „Was kannst du reparieren?“
„Ich gehe hoch.“ Helen hatte Schwierigkeiten, auf die Füße zu kommen. Sie wollte sich entschlossen anhören, aber stattdessen klang sie müde.
„Bleib hier. Oben ist es noch heißer als im
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