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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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gewartet habe, dass etwas passiert. Hunderte von Nächten habe ich hier verbracht. Einfach nur herumsitzen, wie heute Abend.“
    Obgleich die Hitze sie lethargisch machte, wurde Tessa neugierig. „Wenn du von damals erzählst, hört es sich immer so an, als wären deine Jahre hier nur langweilig gewesen.“
    Entgegen Tessas Erwartung ergriff Nancy nicht die Gelegenheit für eine ihrer Tiraden. „Es ist lange her. Vielleicht istes gar nicht so öde gewesen, wie ich es jetzt erinnere. Wenn ich in den Sommernächten hier draußen gesessen habe, war der Himmel immer voller Sterne, es hat nach Geißblatt oder nach wilden Rosen gerochen, und manchmal hat sich deine Großmutter zu mir gesetzt, jedenfalls so lange, bis es zum Nähen zu dunkel wurde. Sie war immer damit beschäftigt, einen Quilt zu nähen, und hat bis spät in die Nacht daran gearbeitet.“
    Es roch auch heute nach Geißblatt, Tessa hatte es bisher nicht bemerkt. Sie sog den Duft tief ein. „Sie näht jetzt auch an einem Quilt. Sie hat ihn heute Nachmittag gerahmt. Gegen drei habe ich ihr einen Eistee hochgebracht, und sie versuchte gerade, den Stoff in den beiden Ringen des Rahmens straff zu ziehen.“
    „Wie sieht es aus?“
    Tessa hatte nicht darauf geachtet. Helens Quilts gehörten einfach dazu. Sie und Mack hatten einige, die sie abwechselnd auf die Betten im Schlafzimmer oder im Gästezimmer legten. Außerdem war Tessa erst kürzlich aufgefallen, dass die Stapel in Helens Zimmer nicht Müllhaufen waren, sondern Quilts, an denen sie arbeitete. Fein säuberlich waren sie auf verschiedene Stapel verteilt.
    „Erdfarben, glaube ich“, sagte sie. „Viele kleine Quadrate.“
    „Wahrscheinlich ist es ein besonderer Quilt, der Trip Around The World genannt wird“, nahm Nancy an, „oder Irish Chain. Sie liebt diese traditionellen Muster.“
    Tessa war überrascht, wie viel ihre Mutter über das Quilten wusste, und wollte es ihr gerade sagen, als sie auf der Straße etwas sah. Sie lehnte sich vor und sah in die Dämmerung. „Wer ist das?“
    „Wo?“
    Tessa machte eine Kopfbewegung in die Richtung. „Dort, auf der Straße, beim Maisfeld gegenüber.“
    Nancy zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich geht da nur jemand spazieren.“
    „Nein, es sieht so aus, als würde sie etwas suchen. Ich muss eh meine Beine ausstrecken, ich schaue mal nach.“
    „Geh nur. Ich bleibe hier sitzen und warte darauf, dass etwas passiert.“
    Tessa tat alles weh. Der ungewohnte Dauerlauf heute Morgen, dann stundenlanges Bücken und Tragen – das alles verlangte seinen Preis. Langsam ging sie auf die Frau zu, die sie jedoch nicht bemerkte.
    Erst als Tessa die Straße überquerte, blickte die Frau, eher ein Mädchen, auf: „Hi.“ Sie lächelte schüchtern. „Schöner Abend, was?“
    Das Mädchen war vermutlich nicht älter als siebzehn. Sie war eher schmal als hübsch, hatte langes, verwuscheltes, weizenblondes Haar, helle Wimpern umrahmten ihre blauen Augen. Ihre Haut schien fast durchsichtig, dadurch stachen die zahllosen Sommersprossen scharf hervor.
    Außerdem war sie sehr, sehr schwanger.
    „Ich bin Tessa MacRae.“ Tessa streckte ihr die Hand entgegen. „Hast du etwas verloren?“
    „Cissy Mowrey. Ich lebe drüben im Haus der Claibornes.“ Sie schüttelte Tessas Hand, ließ sie aber sofort wieder los und verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, als wolle sie das Gewicht ihres Bauches stützen.
    „Nein, Ma’am, ich habe nur Blumen gepflückt.“
    Tessas Blick glitt zu den Füßen des Mädchens, wo ein ordentlicher Strauß Löwenzahn lag. Man konnte die zerrupften Stängel und Blüten nicht unbedingt hübsch nennen, aber viel waren es allemal.
    „Gram wird sich bei dir bedanken. Je mehr du pflückst, desto weniger hat sie im nächsten Jahr.“
    „Mrs. Henry ist Ihre Großmutter?“
    „Kennst du sie?“
    „Nein, Ma’am, nicht wirklich. Ich sehe sie ein oder zwei Mal in der Kirche. Ich mein’, ich habe sie gesehen.“
    Tessa applaudierte dem Mädchen heimlich dafür, dass es sich selbst verbessert hatte, die typische Angewohnheit einer Englischlehrerin. „Na, ich will dich nicht länger aufhalten.“
    Tessa hatte diesen Satz mehr so dahingesagt, denn sie spürte, dass von dem Mädchen etwas ausging, ein Bedürfnis, eine Sehnsucht. Doch Tessa hatte weder den Wunsch noch die Kraft, dem nachzugehen. Das Mädchen machte einen Spaziergang, pflückte Unkraut an einem schönen Sommerabend, relativ weit von zu Hause weg. Sie sah aus, als sei sie im

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