Sommer der Entscheidung
sie keinen Sinn. Helen strengte sich mehr an, etwas zu erkennen. „Wer bist du?“
„Ich sagte doch, nicht gucken!“
Da sie sowieso nichts sehen konnte, ließ sie ihren Blick wieder über den Bach schweifen. „Wer spricht da mit mir?“
„Hör zu, du musst mir helfen.“
Helen kannte die Stimme nicht. Sie sprach mit einem Akzent, der sich von dem der Leute im Tal unterschied. Er war flacher, nasaler, und man musste sich an die Art, wie der Junge die Vokale aussprach, gewöhnen.
„Ich muss gar nichts“, sagte sie mit fester Stimme, „außer meiner Mama und meinem Daddy gehorchen und meine Gebete aufsagen. Und wer redet da eigentlich mit mir? Warum versteckst du dich?“
„Weil ich es muss.“
„Ich wüsste nicht, warum du das tun solltest.“ Sie blinzelte unter ihren Wimpern hervor. „Außer, du hast etwas getan, was du nicht tun durftest, und du willst nicht, dass es jemand sehen kann.“
„Nichts habe ich gemacht. Nur … ich bin einfach in Schwierigkeiten geraten, das ist alles.“
„Was für Schwierigkeiten?“ Helen hob den Kopf und sah sich um.
„Guck weg!“
„Erst wenn du mir sagst, warum. Dann mache ich es vielleicht.“
Es war still. Sie war kurz davor, zu denken, dass er weggegangen war, als er endlich wieder etwas sagte.
„Sie haben mir meine Sachen weggenommen.“
Die Stimme sprach so leise, dass sie zunächst nicht sicher war, ob sie richtig verstanden hätte. „Sachen?“
„Habe ich das nicht gerade gesagt?“
„Wer? Wer hat das getan?“
Dieses Mal blieb es still. Aber Helen, die die Beste im Mathematikunterricht war, zählte zwei und zwei zusammen. „Wer bist du überhaupt?“
„Fate.“
Sein Name sollte Fate, also Schicksal, sein? Einen Moment lang glaubt sie, er mache einen Witz. Vielleicht dachte er, dies sei ein Spiel, in dem er vorgeben konnte, etwas zu sein, was kein Mensch sein konnte. Dann begriff, sie, was los war. „Fate? Der Junge, der jetzt bei den komischen alten Claibornes wohnt? Du bist das?“
„Hm.“ Er hörte sich traurig an, als ob „komische alte Claibornes“ noch nicht mal ansatzweise seine neue Familie beschreiben könnte.
„Fate, hm?“ Sie fragte sich, welches Schicksal ihn hierhinan den Bach verschlagen hatte, und musste über ihren eigenen Scherz schmunzeln.
„Hilfst du mir jetzt oder nicht?“
Helen stellte fest, dass sie sich freute. Das hier war bestimmt das Aufregendste, was ihr in den nächsten Wochen passieren würde. Sie würde es nicht so einfach beenden. „Erst einmal musst du mir erzählen, was überhaupt passiert ist“, sagte sie. „Du musst mir alles erzählen, jede Kleinigkeit.“
„Sie haben mich hergelockt. Sie sagten, man könnte hier baden.“
„Wer sind sie ?“ Sie dachte, sie wisse es schon, aber fragen konnte ja nicht schaden.
„Gus. Er ist mein Cousin. Und ein Junge, der Obed heißt.“
„Und Tom, war der auch hier?“
„Keiner, der Tom hieß.“
Helen hielt das für ein gutes Zeichen. Wenn sein Vater herausfinden würde, was Obed getan hatte, würde nur ein Stoneburner-Sohn heute Abend um Gnade flehen. Das war genau die Sorte Vergehen, die Cuddy am meisten hasste.
„Also, sie brachten dich her“, sagte sie. „Was geschah dann?“
„Sie haben gesagt, dass sie immer …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende.
In Anbetracht der Lage, in der er jetzt war, wusste Helen, was die Jungen ihm erzählt hatten. „Sie haben dir gesagt, dass sie immer nackt baden, richtig?“
„Hm-hm.“
„Sie haben dich angelogen. Wenn sie hier jemals nackt baden und Mama erwischt sie, würde sie ihnen sofort bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren ziehen. Das würde sie niemals zulassen. Da könnten immer Mädchen auf der Fitch entlangkommen.“
„So wie du.“ Er hörte sich absolut erbärmlich an.
„Aber du hast keine Bullen gesehen, oder?“
„Bullen?“
„Du bist nicht schwimmen gegangen, um eine andere Sache nicht zu machen, wie in die Kirche zu gehen oder einer alten Witwe zu helfen?“
„Was redest du da?“
Ganz eindeutig würde diese Geschichte nicht so aufregend sein, wie die, die Becky im Frühjahr am Quilt-Rahmen erzählt hatte. Aber jedenfalls geschah dies hier vor ihren eigenen Augen. Jetzt war es Helens Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Fate nicht nackt vor der halben Welt stand, so wie der Junge in Beckys Geschichte.
„Weißt du, was sie mit deinen Kleidern gemacht haben?“, fragte sie.
„Denkst du, das haben sie mir erzählt?“
„Nee, wahrscheinlich nicht.“ Sie
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