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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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doch.“
    Helen war überrascht. Wann hatte ihre Tochter sie das letzte Mal berührt? Wann hatte sie überhaupt das letzte Mal jemand angefasst? Einen Moment lang war sie stumm.
    „Ach, schade. Ich bin enttäuscht“, sagte Tessa. „Ich dachte, hier gäbe es eine spannende Geschichte.“
    Helen hatte sich von dem kleinen Schock erholt. „Ich werde dir eine gute Geschichte erzählen, die wird dich interessieren. Sie schließt eigentlich an die Geschichte von gestern Abend an, denn sie ist bald darauf passiert. Es wurde ein wenig wärmer, und die Jungens fingen an, schwimmen zu gehen.“
    Sie sah, dass ihre Tochter und ihre Enkelin sich ansahen, als wären sie überrascht oder …
    „Was ist?“, fragte sie. „Wenn ihr nicht hören wollt, was ich zu sagen habe, dann sagt es geradeheraus!“
    Tessa lehnte sich vor. „Wir wollen deine Geschichten gern hören, aber normalerweise redest du nie über die Vergangenheit. Und das macht Mom Sorgen.“
    „Du machst dir Sorgen?“ Helen konnte es nicht glauben. „Du machst dir Gedanken darüber, dass ich rede? Solltest du dir nicht eigentlich Sorgen machen, wenn Leute aufhören zu reden?“
    Nancy starrte Tessa an. „Musstest du ihr das unbedingt erzählen?“
    Tessa beschäftigte sich wieder mit ihrer Waffel. „Ohoh.“
    Helen tippte ihrer Tochter auf den Arm. „Was genau macht dir denn daran Sorgen, Nancy?“
    „Bist du … krank, Mama?“
    Helen verstand die Frage nicht. „Findest du, ich sehe krank aus?“
    „Ich habe mich nur gefragt, ob es vielleicht etwas ist, das du uns bisher nicht erzählt hast.“
    Jetzt hatte Helen verstanden. „Wie, dass ich sterbe?“
    „Ja, so ähnlich.“
    Helen wollte nicht glauben, dass so eine kleine Geschichte so eine große Reaktion hervorrufen konnte. Im Kopf begann sie, Nancy lächerlich zu machen, aber dann überlegte sie es sich anders. „Ich hatte einfach keine Zeit, Geschichten zu erzählen, das ist alles.“
    „Dann geht es dir also gut?“
    „So gut, wie es einem in meinem Alter nun mal geht. Und nein, ich war kürzlich nicht bei meinem Arzt, und er hatte auch keine schlechte Nachricht für mich. Kann eine Frau nicht einfach mal etwas erzählen, ohne dass sofort die Hölle losbricht?“
    „Bis du sicher?“, fragte Nancy.
    Helen nickte.
    „Also ich, zum Beispiel, würde jetzt gern die Geschichte hören“, warf Tessa ein, „bevor es Abend wird.“
    „Ich erzähle sie, aber ihr unterstellt mir dann nicht noch andere Dinge, oder?“ Helen sah besorgt aus. „Nein“, sagte Tessa und hielt ihr den Teller mit den Waffeln hin. „Stärke dich, Gram. Wir hören.“
    Helen nahm den Teller. „Erinnert ihr euch an die Geschichte, die ich gehört hatte, als ich da unter dem Quilt-Rahmensaß? Nun, auf gewisse Weise hat diese Geschichte mit der anderen zu tun.“
    „Durftest du an diesem Tag eigentlich selbst quilten?“, fragte Nancy. „Darauf bist du gar nicht mehr eingegangen.“
    „Sie ließen mich an diesem Nachmittag an den Rahmen. Am nächsten Tag, weil sie dachte, ich würde es nicht sehen, trennte meine Mutter jeden einzelnen Stich auf, den ich genäht hatte. Keiner war gerade oder klein genug, um ihr zu gefallen. Aber das war auch das letzte Mal gewesen. Das war wirklich das allerletzte Mal, dass jemand einen Stich von mir aufgetrennt hat, das kann ich euch wohl sagen.“
    Die Claibornes hatten ihre Farm genauso lange wie die Stoneburners. In den vergangenen Jahren waren die Familien befreundet und halfen einander, so wie das alle Nachbarn im Tal immer getan hatten. Sie hatten einander dabei unterstützt, Ställe zu errichten, die Frauen hatten zusammen Apfelkompott gekocht und mit anderen Familien, die in der Nähe wohnten, schlachteten sie die Schweine. Sie gingen sogar in dieselbe Kirche. Aber dann schoss Sammy Claiborne – er war mehr als ein wenig angetrunken von schwarz gebranntem Whiskey – auf einen Ziegenbock, der Cuddy Stoneburner gehörte. Er war sich todsicher, dass er eine Hirschkuh für den Abendbrottisch vor der Flinte gehabt hatte. Als er die Wahrheit herausfand, bot er nichts anderes an als eine Entschuldigung. Und die war auch nur halbherzig.
    Cuddy war nicht der Typ, der mit anderen kämpfte, aber von dem Tag an wichen die Stoneburners den Claibornes aus.
    Alle außer Obed.
    Mit fünfzehn war Obed Stoneburner einen halben Kopf größer als sein Bruder Tom und stärker. Er war ein gut aussehender Junge und klug dazu. Delilah und Cuddy musstensich bemühen, ihn nicht seinem stilleren Bruder

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