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Sommer der Entscheidung

Sommer der Entscheidung

Titel: Sommer der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emilie Richards
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überlegte. „Ich muss dir wohl neue Sachen besorgen, aber das wird nicht einfach sein. Wenn meine Mama mich sieht, wie ich in das Haus schleiche, lässt sie mich nicht wieder raus, weil ich ihr dann mit dem Abendessen helfen muss.“
    „Bitte, du musst dir einfach etwas überlegen!“
    Er klang unglücklich, aber nicht ängstlich. Und er jammerte nicht. Niemand von den Stoneburners durfte jammern, und sich zu beschweren verstieß auch gegen die Familienregeln – außer vielleicht bei wichtigen Gelegenheiten. Fate wollte einfach seine Kleider zurückhaben, damit er nach Hause gehen konnte. Und er wollte nicht, dass die ganze Welt jede Einzelheit seines Körpers sah.
    „Weil Montag ist, hat Mama heute gewaschen.“ Sie dachte sich einen Plan aus. „Ich bin gleich zurück. Ich lass dich hier nicht allein. Du glaubst mir besser, dass ich dir helfen will.“
    „Das ist wirklich nett von dir.“
    Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Sie ließ den Eimer dort und kehrte zum Haus zurück. Sie achtete darauf, nicht von Delilah gesehen zu werden. Sie vermied das große Küchenfenster und hoffte, dass ihre Mutter so mit dem Einkochen der Bohnen beschäftigt war, dass sie keine Zeit hatte, sich zu fragen, wo ihre Tochter steckte.
    Fast war sie schon mit schwitzenden Händen und schnellem Atem bei der Wäscheleine, als sie Obed und Gus sah. Sie lagen im Gras, sahen in den Himmel hinauf und lachten. Schlimmer noch, es hing kein einziges Kleidungsstück mehr auf der Wäscheleine. Delilah hatte schon alles abgenommen.
    Wut schoss durch Helens Körper. Obed war immer ihr Held gewesen, und schenkte er ihr die kleinste Aufmerksamkeit, war sie glücklich. Heute jedoch sah sie ihn in einem anderen Licht. Alle wussten, dass Gus etwas Gemeines hatte, und jetzt befürchtete Helen, dass ihr Bruder seinem Freund nacheiferte. Sie beschloss, dass es an der Zeit war, dass Obed lernte, dass er wie alle anderen war.
    „Obed!“ Sie zwang sich, aufgeregt zu klingen. „Obed, Gus. Oh nein, ihr müsst schnell kommen!“
    Obed hob kaum den Kopf. „Was schreist du so, Lenny Lou?“
    „Sie kräht wie ein dummes olles Zwerghuhn“, sagte Gus. „Das habe ich schon immer gewusst, dass du eine olle Zwerghenne bist, Lenny.“
    Sie reagierte nicht darauf. „Obed, da ist ein Junge im Bach, und er ist, er ist …“ Sie machte eine Pause, um den Effekt ihrer Worte noch zu verstärken, und legte eine Hand auf ihre Brust. „Er ist ertrunken. Bei der Badestelle, und ich war gerade dabei, es Mama zu sagen.“
    Beide Jungen setzten sich zugleich auf und sahen einander entgeistert an.
    „Ertrunken?“ Obeds tiefe Stimme quietschte wieder wie vor dem Stimmbruch.
    „Ertrunken?“
    „So tot wie ein Stück Holz.“
    „Er kann nicht ertrunken sein. Er kann schwimmen, hat er gesagt.“
    Gus fuhr ihm über den Mund. „Still. Sei doch still!“
    Obed war inzwischen aufgestanden, auch Gus kam auf seine Füße. „Und er hat nichts an“, sagte Helen unter Tränen. „Noch nicht mal Socken.“ Wieder machte sie eine theatralische Pause. „Was sollen wir nur tun? Ich muss es Mama erzählen.“
    „Nein!“ Obed ergriff ihren Arm. „Nein, du würdest sie nur bis Winchester und zurück erschrecken. Nein, du kommst mit und zeigst mir, wo er ist. Wenn es etwas zu sagen gibt, erzähle ich es ihr.“
    Helen ließ sich von ihm mitziehen. Gus ging neben ihm. Die beiden flüsterten miteinander, aber es war ihr egal, was sie sagten. Bis jetzt funktionierte ihr Plan hervorragend.
    Es dauerte einige Minuten, bis sie am Bach ankamen und ihr bis zur Badestelle folgten. Sie schniefte von Zeit zu Zeit und rang ihre Hände einige Male, um ihre Bestürzung zu zeigen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Obed blass war. Sogar Gus hatte seine freche Art eingebüßt, und aufrichtige Angst war in seinen Augen zu sehen.
    Sie kamen bei der Badestelle an. Das Wasser hier war dunkel, und man konnte nicht bis auf den Boden sehen. Dafür hatte Virginias gute rote Erde gesorgt.
    „Wo?“, fragte Obed. „Wo ist er?“
    „Er war genau da drüben. Er lag direkt dort auf dem alten Baumstamm.“
    Ein gefällter Baum war zur Seite abgeknickt und hing über der Wasseroberfläche. Sie wusste, dass die Jungen davonheruntersprangen, wenn das Wasser hoch genug war. Obeds Augen wurden groß. „Bis du sicher, Lenny? Bist du dir wirklich sicher? Und er war wirklich tot?“
    „Seine Augen starrten, als würden sie etwas sehen, aber es gab nichts zu sehen. Und er war steif, weißt du,

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