Sommer der Nacht
an der Decke. Bisher hatte er sorgfältig darauf geachtet, daß er das Insekt nicht traf, aber es wuselte schon einigermaßen aufgeregt hin und her. Jedesmal, wenn es sich einem schützenden Riß oder Sechs-mal-acht-Balken näherte, ließ Mike das Gummiband schnalzen, so daß das Tier in die andere Richtung krabbelte. »Ich will nicht schwimmen gehen«, sagte Mike. »Nach dem Gewitter gestern abend werden sämtliche Mokkassinschlangen aufgeschreckt sein.«
Dale und Lawrence sahen sich an. Mike hatte Angst vor Schlangen; die einzige Angst, die ihr Freund ihres Wissens hatte.
»Ballspielen«, sagte Kevin.
»Nee«, sagte Harlen, der in einem Sprungfedersessel hing und ein Superman-Heft las. »Ich hab' meinen Handschuh nicht mitgebracht und müßte nach Hause fahren und ihn holen.« Die anderen Jungs -mit Ausnahme von Duane - wohnten alle innerhalb eines Blocks, Jim Harlen dagegen am anderen Ende der Depot Street bei den Schienen, die zur Müllhalde und den baufälligen Hütten führten, wo Cordie Cooke wohnte. Harlens Haus war in Ordnung, ein weißes Farmhaus, das schon vor Jahrzehnten von der Stadt geschluckt worden war, aber eine Menge seiner Nachbarn waren komische Käuze. J. P. Congden, der verrückte Friedensrichter, wohnte nur zwei Häuser von Harlen entfernt, und C. J., der Sohn von j. P., war der gemeinste Schläger in der Stadt. Die Jungs spielten nicht gern in Harlens Haus, sie gingen nicht einmal dorthin, wenn sie es vermeiden konnten, und sie hatten Verständnis dafür, daß Jim Harlen selbst nur ungern dorthin fahren wollte, um seine Sachen zu holen.
»Gehen wir in den Wald«, schlug Dale vor. »Wir könnten die Gypsy Lane abklappern.«
Die anderen Jungs räkelten sich träge. Es gab keinen ersichtlichen Grund, sich gegen den Vorschlag auszusprechen, aber die Faulheit hatte sie alle fest im Griff. Mike ließ das Gummiband schnalzen, der Weberknecht wuselte von der Stelle des Aufpralls fort.
»Das dauert zu lange«, sagte Kevin. »Ich muß zum Essen zu Hause sein.«
Die anderen Jungs lächelten, sagten aber nichts. Sie kannten alle die Stimme von Kevins Mutter, wenn sie die Tür aufmachte und mit steigendem Falsett >Ke-VIIIN!< brüllte. Und sie kannten auch den Eifer, mit dem Kevin fallen ließ, was er gerade in der Hand hatte, und zu dem weißen Ranchhaus auf dem Hügel gleich neben dem älteren Haus von Dale und Lawrence eilte.
»Was willst du machen, Duane?« fragte Mike. O'Rourke war der geborene Anführer, er fragte stets jeden, ehe er eine Entscheidung traf.
Der große Farmjunge mit dem windschiefen Haarschnitt, den ausgebeulten Cordhosen und dem gleichgültigen Gesichtsausdruck kaute etwas - keinen Gummi -, und sein Ausdruck war beinahe zurückgeblieben. Dale wußte, wie irreführend das Bauerntölpeläußere war -alle Jungs spürten es -, denn Duane McBride war so klug, daß die anderen seine Gedankengänge nur erahnen konnten. Er war so klug, daß er es nicht einmal nötig hatte, in der Schule zu beweisen, wie klug er war; statt dessen zog er es vor, die Lehrer sich in Frustration über die völlig korrekten, aber einsilbigen Antworten des zu groß geratenen Jungen winden oder sich die Köpfe angesichts mündlicher Antworten kratzen zu lassen, die von einer Ironie geprägt waren, die an Impertinenz grenzte. Duane lag nichts an der Schule. Ihm lag an Dingen, die die anderen Jungs nicht einmal verstanden.
Duane hörte auf zu kauen und nickte zu dem alten Musikschrank von RCA Victor, der in der Ecke stand. »Ich glaube, ich würde gern Radio hören. « Er machte drei stapfende Schritte auf das Ding zu, kauerte sich ohne jede Anmut davor nieder und drehte am Tuner. Dale sah verblüfft hin. Der Schrank war riesig, über einen Meter hoch, und er sah mit verschiedenen Kanalstreifen eindrucksvoll aus - auf dem obersten stand NATIONAL, Mexico City war bei neunundvierzig Megahertz eingetragen, Hongkong, London, Madrid, Rio und eine ganze Liste anderer bei 40 MHz, die bösen Städte Berlin, Tokio und Pittsburgh bei 31 MHz und Paris einsam und geheimnisvoll am anderen Ende der Skala bei 19 MHz -, aber der Schrank war leer. Es waren keine Röhren und nichts mehr da.
Duane kauerte, drehte sorgfältig den Tuner, hatte den Kopf schiefgelegt und lauschte auf das leiseste Geräusch.
Jim Harlen ging als erstem ein Licht auf. Er kroch hinter den Musikschrank und zwängte sich in eine Ecke, so daß nichts mehr von ihm zu sehen war.
Duane sagte: »Ich versuch's mit dem Lokalsender.« Er drehte die mittlere
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