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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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meiner Geburt erinnern?«
    Duane blinzelte. Er stellte sich diese runzlige und etwas senile alte Dame als runzliges Baby vor, rosig und frisch, das die Welt in dem Jahr begrüßte, als General Custers Männer abgeschlachtet wurden. Er dachte an die Veränderungen, die sie miterlebt hatte -Droschken ohne Pferde, das Telefon, der Erste Weltkrieg, Amerikas Aufstieg zur Weltmacht, Sputnik - und alles aus der Perspektive unter den Ulmen der Depot Street.
    Er sagte: »Sie können sich also nicht an eine Glocke erinnern?« Er steckte Stift und Notizbuch weg.
    »Aber freilich erinnere ich mich an die Glocke«, sagte sie und nahm sich noch einen der Kekse ihrer Tochter. »Es war eine wunderschöne Glocke. Mr. Ashleys Vater hat sie von einer Europareise mitgebracht. Als ich in Central zur Schule gegangen bin, hat die Glocke jeden Tag um Viertel nach acht und um drei geläutet.«
    Duane sah sie an. Er bemerkte, daß seine Hand leicht zitterte, als er das Notizbuch wieder herausholte und anfing zu schreiben. Dies war die erste Bestätigung - außer in den Büchern -, daß die Glocke existierte.
    »Erinnern Sie sich an etwas Besonderes an der Glocke?«
    »Guter Junge, alles an der Schulglocke war damals etwas Besonderes. Einer von uns ... von den jüngeren Kindern ... wurde jeden Freitag ausgewählt, um am Seil zu ziehen und den Unterrichtsbeginn einzuläuten. Ich weiß noch, ich wurde auch einmal ausgewählt. Es war eine wunderschöne Glocke...«
    »Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?«
    »Nun, ja. Ich meine, ich bin nicht sicher ...« Ein seltsamer Ausdruck huschte über Mrs. Moons Gesicht, sie ließ den Keks in den Schoß sinken. Zwei Katzen verschlangen ihn, während sie sich mit zitternden Fingern zum Mund griff. »Mr. Moon... ich meine meinen Orville, nicht meinen Vater ... Mr. Moon hatte nichts mit dem zu tun, was geschah. Überhaupt nichts ...« Sie klopfte mit einem knochigen Finger auf Duanes Notizblock. »Schreib das auf. Weder Orville noch Vater sind dabeigewesen, als ... diese schreckliche Geschichte passiert ist.«
    »Ja, Ma'am«, sagte Duane und hielt den Stift bereit. »Was ist denn passiert?«
    Jetzt zitterten beide Hände von Mrs. Moon. Die Katzen sprangen von ihrem Schoß. »Nun, diese schreckliche Sache. Du weißt schon, die schlimme Sache, über die wir alle nicht sprechen wollen. Warum solltest du darüber schreiben wollen? Du scheinst mir so ein netter Junge zu sein.«
    »Ja, Ma'am«, sagte Duane, der fast den Atem anhielt. »Aber man hat mir gesagt, ich soll über alles schreiben. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Hilfe. Von was für einer schrecklichen Sache reden wir denn? Hat sie etwas mit der Glocke zu tun?«
    Mrs. Moon schien vergessen zu haben, daß er bei ihr im Zimmer war. Sie sah in den Schatten, wo ihre Katzen nur als Flüstern einer Bewegung zu erkennen waren. »Aber nein...«, begann sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein brüchiges Flüstern zustande brachte. Duane konnte draußen auf der Straße einen Laster vorbeifahren hören, aber Mrs. Moon blinzelte nicht. »Nicht mit der Glocke«, sagte sie. »Aber natürlich haben sie ihn daran aufgehängt, richtig?«
    »Wen aufgehängt?« Duane flüsterte jetzt auch.
    Mrs. Moon drehte das Gesicht in seine Richtung, aber ihre Augen schienen immer noch blind zu sein. »Aber selbstverständlich diesen schrecklichen Mann. Der das ...« Sie gab ein Geräusch von sich, und Duane sah, daß Mrs. Moon Tränen auf den Wangen hatte. Eine fand einen Weg durch den Irrgarten der Falten zu ihrem Mundwinkel. »Der das kleine Mädchen umgebracht und gegessen hat«, sprach sie mit fester Stimme weiter.
    Duane hörte auf zu schreiben und sah sie an.
    »Du schreibst das jetzt auf!« befahl die alte Dame und deutete auf ihn. Ihr Blick war aus der weiten Ferne zurückgekehrt und bohrte sich in Duane. »Es wird Zeit, daß das aufgeschrieben wird. Schreib alles auf! Vergiß nur nicht, in deinem Bericht zu erwähnen, daß weder Orville noch Mr. Moon dabei gewesen sind ... sie waren nicht einmal im County, als diese schreckliche Sache passiert ist. Schreib jetzt alles auf!«
    Und während sie mit einer Stimme sprach, die sich für Duane wie alles Pergament in einem lange verschlossenen Kästchen anhörte, schrieb er alles auf.

19 
    Dale ging persönlich vorbei, um Harlen zur Versammlung bei Onkel Henry am Freitag einzuladen, und da wurde ihm erst klar, wie einsam ihr Freund gewesen sein mußte. Miß Jensen, Harlens Mutter, hatte Zweifel, ob es Jimmy gut

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