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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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im ersten Stock. Im ersten Stock kann kein Loch oder Tunnel sein. Außerdem ist der Boden solides Holz.« Er hatte sich runtergebeugt und mit den Knöcheln auf den Boden geklopft. »Siehst du, solide.«
    Lawrence hatte die Augen zugemacht, als hätte er erwartet, daß eine Hand herausgreifen und Dales Arm pak-ken würde.
    Dale hatte es aufgegeben, Lawrence davon überzeugen zu wollen, daß er keinen Grund hatte, Angst zu haben. Dale hatte keine Angst vor der Dunkelheit oben - seine Furcht konzentrierte sich auf den Keller, besonders den Kohlenkeller, wo er jeden Winterabend runtergehen und Kohlen holen mußte -, aber er erzählte weder Lawrence noch sonst jemandem je von dieser Angst. Dale mochte den Sommer, weil er da nicht in den Keller mußte. Aber Lawrence hatte das ganze Jahr über Angst vor der Dunkelheit.
    Am ersten Sonntagabend der Sommerferien bat Lawrence Dale, für ihn nach oben zu gehen und das Licht anzumachen, und Dale seufzte, klappte das Tarzan-Buch zu, das er las, und ging mit seinem Bruder nach oben.
    Es lauerten keine Gesichter in der Dunkelheit. Nichts kam unter seinem Bett hervor. Als Dale die Schranktür aufmachte und das gestreifte Hemd seines Bruders aufhängte, sprang nichts heraus und zog ihn hinein. Lawrence zog seinen Zorro-Schlafanzug an, und Dale stellte fest, daß er auch müde wurde, obwohl es nicht einmal neun Uhr. war. Er zog seinen blauen Pyjama an, warf seine schmutzige Wäsche in den Korb und lebte sich ins Bett, um weiter von Tarzan und der vergessenen Stadt Opar zu lesen.
    Sie hörten Schritte, und ihr Dad stand unter der Tür. Er hatte die Lesebrille auf, mit deren dunklem Gestell er älter und ernster als sonst aussah.
    »Hallo, Dad«, sagte Lawrence von seinem Bett. Er hatte gerade sein Ritual beendet, alles festzustecken und sich zu vergewissern, daß nichts lose herunterhing, das Kreaturen unter dem Bett in Versuchung führen könnte.
    »Hallo, Tiger. Früh im Bett heute, was?«
    »Ich les' noch eine Weile«, sagte Dale und wußte plötzlich, daß etwas passiert war. Normalerweise kam ihr Dad nicht nach oben, um gute Nacht zu sagen, und heute abend waren seine Augen und Lippen verkniffen. »Was ist denn, Dad?«
    Ihr Vater trat ein, nahm die Brille ab, als wäre ihm gerade eingefallen, daß sie noch da war, setzte sich auf Lawrences Bett und überbrückte mit der linken Hand den Spalt zu dem von Dale. »Habt ihr das Telefon gehört?«
    »Hm-mm«, sagte Dale.
    »Ja«, sagte Lawrence.
    »Das war Mrs. Grumbacher ...«, begann ihr Dad. Er spielte mit der Brille, klappte sie auf und zu. Dann hörte er auf und steckte sie in die Tasche. »Mrs. Grumbacher hat erzählt, daß sie Miß Jensen heute in Oak Hill getroffen hat...«
    »Miß Jensen«, sagte Lawrence. »Du meinst Jim Harlens Mom?« Lawrence hatte nie verstanden, warum Harlens Mom einen anderen Nachnamen hatte ... oder warum sie eine »Miß« sein und trotzdem ein Kind haben konnte.
    »Psst«, sagte Dale.
    »Ja«, sagte ihr Dad und tätschelte Lawrences Bein unter der Bettdecke. »Jims Mom. Sie hat Mrs. Grumbacher erzählt, daß Jim einen Unfall gehabt hat.«
    Dale spürte, wie sein Herz für einen Schlag aussetzte und dann langsamer schlug. Er und Kevin hatten Harlen am Nachmittag besuchen wollen - Mike war nicht dagewesen, und sie hatten genügend Jungs zum Ballspielen gebraucht -, aber Har-lens Haus war dunkel und verriegelt gewesen. Sie hatten sich gedacht, er hätte einen Sonntagsausflug zu Verwandten oder so mitmachen müssen.
    »Einen Unfall«, wiederholte Dale nach einer Weile. »Ist er tot?« Dale wußte intuitiv mit Sicherheit, daß Harlen tot war.
    Dales Dad blinzelte. »Tot? Nein, Junge, Jim ist nicht tot. Aber er ist verletzt. Er war heute immer noch bewußtlos im Krankenhaus von Oak Hill, als Mrs. Grumbacher mit seiner Mutter gesprochen hat.«
    »Was ist passiert?« fragte Dale. Seine Stimme klang trocken, krächzend.
    Ihr Dad rieb sich die Wange. »Sie sind nicht sicher. Sieht so aus, als wäre Jim an der Schule hinaufgeklettert ...«
    »Old Central!« hauchte Dale.
    »Ja, er ist auf der Schule auf der anderen Straßenseite herumgeklettert und dabei abgestürzt. Mrs. Monn hat ihn heute morgen gefunden. Sie hat in dem Müllcontainer bei der Schule nach Dosen und alten Zeitungen gesucht ... nun, Jim war entweder in der Nacht zuvor oder am Morgen da hineingefallen und war bewußtlos.«
    Dale leckte sich die Lippen. »Ist er schwer verletzt?«
    Ihr Vater schien einen Moment zu überlegen, ob er antworten sollte.

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