Sommer der Nacht
bringen, die etwas damit zu tun hatten. Nachdem die Ashleys die Glocke gekauft hatten und nach Amerika aufgebrochen waren, brannte die Lagerhalle, in der das Ding aufbewahrt worden war, bis auf die Grundmauern nieder, wobei drei Menschen ums Leben kamen, die anscheinend in dem alten Bauwerk gehaust hatten. Die meisten namenlosen und nicht katalogisierten Kunstgegenstände in der Halle wurden vernichtet, aber die Borgia-Glocke war rußig und unversehrt gefunden worden. Der Frachter, der die Glocke nach New York befördert hatte - ein britisches Schiff, die H.M.S. Erebus - sank um ein Haar während eines für die Jahreszeit ungewöhnlichen Sturms vor den Kanarischen Inseln: Der beschädigte Frachter wurde in den Hafen geschleppt, seine Ladung umgelanden, aber zuvor ertranken fünf Mannschaftsmitglieder, ein weiteres kam ums Leben, als Frachtkisten im Laderaum verrutschten.
Die monatelange Zwischenlagerung der Glocke in New York schien nicht von Katastrophen begleitet gewesen zu sein, aber eine Verwechslung der Etikettierung sorgte beinahe dafür, daß das Ding dort verlorenging. Einige New Yorker Anwälte der Familie Ashley spürten das verschwundene Stück Geschichte auf, gaben im Naturkundemuseum von New York einen großen Empfang für die Glocke, zu dessen Gästen Mark Twain, P. T. Bar-num und der ursprüngliche John D. Rockefeller gehörten, und ließen sie dann auf einen Güterzug nach Peoria verladen. Dort schien die Pechsträhne wieder anzufangen: Der Zug entgleiste bei Johnstown, Pennsylvania, der Ersatzzug war in einen Brückeneinsturz von Richmond, Indiana, verwickelt. Die Pressemeldungen waren unklar, aber offenbar war bei beiden Unfällen niemand verletzt worden.
Die Glocke traf schließlich am 14. Juli 1876 in Elm Ha-ven ein und wurde ein paar Wochen später in den verstärkten Glockenturm eingebaut - der Old-Settlers-Jahr-markt erkor die Glocke in diesem Sommer zum Mittelpunkt, und es wurden zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt, darunter eine, bei der Historiker und Berühmtheiten aus Peoria und Chicago mit einem Sonderzug hergefahren wurden.
Offenbar war das Ding rechtzeitig zum Schulanfang am dritten September dieses Jahres im Glockenturm, denn ein Zeitungsbild vom Schulanfang in Creve Coeur County zeigte ein Old Central in einer seltsam baumlosen Stadt unter der Schlagzeile: Historische
Glocke ruft hiesige Schulkinder zu einem neuen Zeitalter des Lernens.
Duane lehnte sich im Archivsaal zurück, wischte sich mit einem Zipfel seines Flanellhemdes den Schweiß vom Gesicht, klappte den schweren Zeitungsfolianten zu und wünschte sich, die Notlüge, die er Mrs. Frazier genannt hatte, um Zutritt zu bekommen, wäre wahr - daß er tatsächlich vorgehabt hätte, einen Aufsatz über Old Central und die Glocke zu schreiben.
Aber niemand schien sich zu erinnern, daß die Glocke da war. Nach weiteren anderthalbstündigen Recherchen hatte Duane nur noch drei Verweise auf die Glocke gefunden - und in keinem wurde sie noch als Borgia-Glocke bezeichnet. In Dr. Priestmanns Buch waren ältere Quellen zitiert, in denen sie als Borgia-Glocke bezeichnet wurde, aber der Lokalhistoriker selbst nannte sie nie so. Den einzigen Hinweis fand Duane in einem Abschnitt, wo es hieß: »... die massive Glocke, die angeblich aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt und mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich so alt ist, welche Mr. Charles Catton Ashley und seine Gemahlin während ihrer Europareise im Winter 1875 für das County kauften.«
Erst als er vier Bände der Bücher der Historischen Gesellschaft durchgelesen hatte, fiel Duane auf, daß ein Band fehlte. Der Band 1875-1885 war unversehrt, bestand aber hauptsächlich aus Fotos und großen Ereignissen. Dr. Priestmann hatte einen detaillierten und wissenschaftlicheren Abriß der anderen Jahre des Jahrzehnts unter der allgemeinen Überschrift Monographien, Dokumentation und Primärquellen geschrieben, wobei die Jahreszahlen in eckigen Klammern standen; 1876 war einfach nicht da.
Duane ging nach unten und sprach Mrs. Frazier darauf an. »Entschuldigung, Ma'am, aber könnten Sie mir sagen, wo die Historische Gesellschaft heute ihre anderen Unterlagen aufbewahrt?«
Die Bibliothekarin lächelte und ließ die Brille an der Perlenkette sinken. »Gewiß, mein Lieber. Du mußt wissen, daß Dr. Priestmann gestorben ist....«
Duane nickte und sah aufmerksam drein.
»Nun, da weder Mrs. Cadberry noch Mrs. Esterhazy - die Damen, die dafür verantwortlich waren, die Mittel zur
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