Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Augen auf, um besser zu verstehen, was sie sagen.
»Bitte, kommen Sie doch herein, Schwester. Sie stören doch nicht. Möchten Sie einen Kaffee?« Meine Mutter ist verlegen und nervös, das merkt man ihrer Stimme an und der Tatsache, dass sie sehr laut und hoch spricht.
»Nein, danke«, sagt Schwester Mimma leise. Ich höre, wie ihr mächtiger Leib unter dem Ordensgewand sich zwischen den Stühlen und dem Tisch in unserer Küche bewegt.
»Was kann ich Ihnen anbieten? Einen schönen frisch gepressten Saft?« Meine Mutter dreht den Wasserhahn zu. Sie setzt sich oder bietet Schwester Mimma einen Platz an. Ich höre nur, wie ein Stuhl vom Tisch abgerückt wird.
»Nein, nein, machen Sie sich keine Umstände. Geben Sie mir ein Glas Wasser, und ich setze mich einen Augenblick.«
Ich komme aus meinem Zimmer, während sich Schwester Mimma auf den Stuhl am Kopfende des Tisches fallen lässt, wo sonst nur mein Vater sitzt.
»Guten Tag.« Ich bin noch in Schlafanzug und Pantoffeln.
»Anna, gut, dass du da bist, ich brauche dich in der Kirche«, sagt Schwester Mimma und zwinkert mir unmerklich zu.
Meine Mutter stellt ihr ein volles Glas Wasser hin, setzt sich neben die Nonne und bedeutet mir, ich soll mich ebenfalls setzen.
»Setz dich Anna«, sagt sie dann noch.
Ich komme näher und nehme Platz.
»Signora Aurora, ich bin hier, weil ich Sie fragen wollte, ob ich Ihnen Anna Maria heute für den ganzen Nachmittag entführen darf. Ich brauche sie in der Kirche. Sie soll mir einige Einladungskarten für den Chor schreiben. Ihre Schrift ist so schön, sauber und ordentlich …« Sie tut so, als würde sie einen Schluck trinken.
»Aber sicher, das ist doch gar kein Problem. Anna, geh und zieh dich an. Los, mach schon.« Meine Mutter stellt keine Fragen.
Schwester Mimma wirft mir ein verschwörerisches Lächeln zu.
Ich lasse den Kopf auf den Tisch sinken, bis meine Stirn die Plastikdecke berührt. Ich schnaube vernehmlich. Aber ich glaube nicht, dass sie es hören.
»Was hast du? Bist du bockig? Los, beweg dich!« Meine Mutter gibt mir zwei Klapse auf die Ellenbogen. Ich stehe auf und schlurfe in mein Zimmer zurück, um mir Hosen und T-Shirt anzuziehen.
»Schwester Mimma, ich mache mir solche Sorgen um dieses Mädchen, sie hat zu gar nichts Lust. Jetzt, wo die Schule zu Ende geht, will sie nicht woanders weiterlernen, aber arbeiten gehen will sie auch nicht. Zum Glück mag sie den Chor und die Kirche sehr …«
Ich ziehe mich an und komme wieder in die Küche.
»Ich bin fertig, gehen wir.«
»Vielleicht wird es ein wenig später, Signora Aurora«, meint Schwester Mimma von der Tür aus. Meine Mutter ergeht sich in Lächeln und Dankesbezeugungen.
Ich weiß genau, dass es nicht in die Kirche geht, sondern nach Polistena, aber ich will nicht dorthin.
Wir biegen um die Ecke und erreichen die Piazza. Dort steht ein blauer Fiat Punto.
Schwester Mimma schließt den Wagen auf und setzt sich ans Steuer. Sie öffnet mir die Tür und winkt mir, dass ich einsteigen soll.
»Schwester Mimma …«
»Ja, Anna?«
»Warum haben Sie meiner Mutter nicht erzählt, dass wir nach Polistena fahren?«
»Weil ich sie nicht beunruhigen wollte; ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht. Du hast ihr nichts von dem erzählt, was geschehen ist. Wir fahren jetzt nach Polistena und reden mit den Schwestern dort. Wenn es dir gefällt und du dort bleiben möchtest, übernehme ich das mit deiner Mutter. Ich sage ihr, es ginge nur darum, dass du etwas lernst. Du wirst schon sehen, es ist leichter, als du glaubst.«
Schwester Mimma wiederholt ständig dieses »was geschehen ist«, ohne mehr hinzuzufügen.
Ich rutsche auf dem Sitz hin und her und sage die ganze Fahrt über kein Wort. Ich versuche nachzudenken. Weiß nicht, was ich tun soll.
Wieder bereue ich es, in einen Wagen gestiegen zu sein.
Das Dorf
Anna wartet jeden Tag darauf, dass es Nacht wird. Aber die Nacht macht ihr Angst, weil in der Dunkelheit Geräusche durch die Luft schwirren und in ihrem Kopf entstehen. Sie liegt ausgestreckt im Bett, die Hände zu Fäusten geballt. Sie lauscht der Nacht. Sie hält Wache. Sie hat stark abgenommen, wiegt nur noch vierzig Kilo. Vielleicht sogar noch weniger, aber das weiß sie nicht, denn es gibt keine Waage im Haus. Jede Nacht im Bett Wache zu halten ist anstrengend. Aber immer noch besser als einschlafen.
Seit einiger Zeit sind die Eisfiguren verschwunden. Wohin auch immer. Es gibt nur einen einzigen Weg, wie Anna weiterleben kann,
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