Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Mal mitgebracht. Der hält dicht. Der sollte besser nicht reden.«
Aufgeschnappte, zufällig gehörte, zusammengereimte Sätze. Seit alles begonnen hat, also seit der Osternacht, sind zwei Jahre vergangen. Jetzt gehört Cucinotta allerdings nicht mehr zur Gruppe. Domenico Iannello ist der Anführer. Die anderen sind immer noch mit dabei. Andere sind dazugekommen.
Und ich? Ich habe keine Kraft zu schreien. Mein Körper hat genug Atem, aber wenn ich den Mund aufmache, um loszuschreien, ist da nur Leere. Der Kopf. Das Herz. Die Seele leer. Ich bin zu Luft geworden. Luft kann nicht leiden. Spürt keinen Schmerz. Weint nicht.
Ich weine nicht. Ich habe nur in der ersten Nacht geweint, in dieser Osternacht vor fast drei Jahren. Ich habe heimlich geweint, leise, damit meine Schwester mich nicht hört, das Gesicht ins Kissen gepresst. Die Füllung saugte sich voll mit Tränen und Speichel. Und ich habe geweint, als ich mir meine Haare so kurz wie ein Junge geschnitten habe. Aber das war das letzte Mal.
Seitdem warte ich. Und weine nicht mehr. Ich warte auf den nächsten Windstoß. Warte auf einen Gewittersturm, darauf, dass etwas passiert, dass sich etwas ändert. Ansonsten lasse ich mich willenlos herumfahren, ohne jemals einen Ort wahrzunehmen, an dem ich mich befinde, oder ein Gefühl. Ich spüre keine Angst mehr. Ich spüre keinen Ekel. Ich spüre keine Wut.
Nur eines hat sich nie geändert. Ich habe mich nicht daran gewöhnt. O nein, das niemals.
Ab und zu denke ich noch einmal über diese erste Nacht nach und über die Stufe, unsere Stufe, auf der Domenico Cucinotta und ich gesessen haben. Ich erinnere mich wieder, wie heftig mein Herz geklopft hat, als er mir sagte, dass ich sein Püppchen sei. Ab und an denke ich an die Male, als er mit dem Auto unter dem Fenster meines Zimmers vorbeigefahren ist und dabei das Radio auf volle Lautstärke gestellt hatte. Er legte immer ein anderes Liebeslied ein. Süße Worte nur für mich. Ständchen, die nur für mich bestimmt waren.
Jetzt ist Cucinotta aus meinem Leben verschwunden. Es bleiben die anderen.
Und neue kommen dazu.
Das Dorf
In San Martino ist der Handyempfang schlecht. Die Verbindungen sind gestört, die Antennen weit weg. Anna Maria lehnt ihr Telefon immer am Fenster an. Das ist die einzige Stelle, wo es zumindest ein bisschen Empfang gibt.
Wenn das Handy vibriert, zittert die gesamte Fensterscheibe. Jede Nacht gegen zwei kommt ein Anruf. Die Nummer ist unterdrückt. Anna geht dran. Sie hört Schritte, dann das laute Rascheln einer Tüte. Weiter nichts.
Jede Nacht zur selben Uhrzeit.
Das Handy vibriert.
Das Fenster zittert.
Männerschritte.
Eine Tüte wird zerknüllt.
Schweigen.
Die Schulden
H eute Nacht habe ich im Fernsehen einen Stierkampf gesehen. Es war das erste Mal, dass ich so etwas gesehen habe. Ich habe den Ton am Fernseher ganz leise gestellt, um niemanden aufzuwecken, und habe mich in den Bildern verloren, die mein kleines Zimmer erleuchteten.
Bevor der Stier in die Arena kommt, wird er betäubt. Auch das wusste ich nicht. Dann putzen sie ihn mit Schleifen und Bändern heraus. Affig, eine traurige Rache des Menschen am Tier.
Der Torero ist völlig aufgeputscht. Adrenalingeladen, bereit, bewaffnet. Der Stier läuft langsam. Er wankt. Sein Blick ist getrübt. Die Augen irren umher. Die Arena öffnet sich vor ihm. Und da sind sie. Einer, der Stier, gegen alle: den Torero und das Publikum.
Der Torero weiß, dass das Tier mit Medikamenten betäubt wurde. Er weiß, dass es kein fairer Kampf ist, und doch tänzelt er vor ihm herum, schlägt zu, dreht sich um die eigene Achse, sticht zu. Und das Publikum springt auf, mit ihm, für ihn. Die Arena ist außer sich. Dem Stier bleibt kein Ausweg, und er sucht auch nicht danach. Er bietet sich dem Degen dar. Seine einzige Hoffnung ist, dass es schnell vorbei ist. Seine einzige Kraft bezieht er daraus, dass er bald keinen Schmerz mehr spüren und diese Stimmen nicht mehr hören wird. Er weiß, dass er nur durchhalten muss, weil das Spektakel bald vorüber sein und dann wieder Stille einkehren wird, und dass das Medikament in seinem Körper seine letzten Todeskrämpfe lindern wird. Sand verklebt seine Zunge. Endlich werden sich seine Augen schließen.
Darauf warte ich. Auf nichts als Sand und Dunkelheit. Wie der Stier warte ich darauf, dass irgendwann alles vorbei ist.
Heute hat mich Domenico Iannello an einen Mann weitergereicht. Er wollte nicht, dass ich mit ihm mitgehe, sondern hat mich verkauft,
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