Sommer in Lesmona
Da ich allerlei gekauft habe, mußte ich mir noch einen Koffer
kaufen und will schon etwas einpacken.
In großer Liebe
Deine unglückliche
Matti
Bremen, Mai 95
Freitag, abends 6 Uhr
Liebe einzige Bertha!
Gestern kam ich so kaputt hier an, daß
ich sofort zu Bett ging, heute habe ich auch den ganzen Tag im Bett gelegen. Du
weißt, daß ich das eigentlich nie tue, also kannst Du wissen, daß es nicht
anders ging. Die Eltern sind Gottseidank noch weg. Soll ich nun diesen Sonntag
oder Montag zu Euch kommen? Linsche steckt diesen Brief jetzt noch ein, und Du
hast noch Zeit zu antworten, wenn ich Sonntag mit dem Mittagszug kommen soll,
sonst Montagfrüh. Bis dahin bin ich wieder so weit.
Nun will ich Dir alles erzählen. Also
zuletzt schrieb ich von der Tanzerei, dann kam «le dimanche triste et sombre»,
wie wir in der Pension sagten, und dann der Opernabend. Wäre nicht der
furchtbare Abschied vor uns gewesen, hätten wir Grund gehabt, zu sagen: «It was
a splendid evening.» Der Eindruck dieses Opernhauses ganz wunderbar, und diese
elegante Welt! Wir hatten sehr gute Parkettplätze. Verdi: Rigoletto! Das
Orchester war wunderbar, die Sänger hatte ich in Dresden schon mal besser
gehört. Ich liebe die Musik so sehr. Alle Herren im Frack, alle Damen decolletiert,
Tante Ellen im schwarzen Samtkleid ganz himmlisch. Ich hatte das weiße Kleid an
von Deiner Hochzeit mit langen weißen Handschuhen und dazu das neue Cape aus
Schwanendaunen um die Schultern, das mir Tante Ellen von Liberty geschenkt
hatte. Percy hatte Tante Ellen Veilchen geschenkt und mir in der Garderobe drei
dunkelrote Nelken angesteckt. Wir saßen so: Onkel Christian, Tante Ellen, ich,
Percy. Und immer fühlte ich seinen Arm, und immer wußte ich, daß er mich
liebte, und ich fragte ihn: «Was ist heute größer, das Glück oder das Unglück?»
Er sagte: «Das Unglück.» Von Zeit zu Zeit sagte er: «Daisy, sieh mich an.» Nie
in meinem Leben werde ich die Rigoletto-Musik hören, ohne an diesen glanzvollen
und doch so traurigen Abend zu denken.
Und dann kam der wirkliche Abschied am
Mittwoch 11 Uhr 30 in Victoria-Station. Tante Ellen fuhr mit mir und dem Gepäck
rechtzeitig weg, aber durch eine Straßensperre mußten wir einen großen Umweg
fahren und kamen spät am Bahnhof an. Onkel Christian und Percy standen da und
warteten. Onkel Christian und Tante Ellen gingen sofort für die Expedition der
Koffer in den Gepäckraum, und wir sollten mit dem Träger und dem Handgepäck auf
den Perron vorangehen und Plätze im Zug belegen. Percy belegte zwei
Fensterplätze, packte mit dem Träger das Handgepäck hinein und bezahlte ihn, so
daß wir allein draußen standen. Er kam zu mir, und vor all den vielen, vielen
Menschen gab er mir einen langen Kuß auf den Mund und sagte: «Good bye, Daisy, ‘tis
all over now.»
Darauf kamen Bercks, und es war schon
hohe Zeit. Wir stiegen gleich ein, Tante Ellen sprach noch aus dem Fenster,
dann fuhr der Zug ab. Ich sah noch hinaus, aber es war zu spät, Onkel Christian
hatte seinen Arm um Percys Schultern gelegt und nahm ihn mit sich weg. Tante
Ellen sagte: «Der arme Junge! — Onkel Christian wird ihn jetzt mit zum Lunch
nehmen.» Dann installierten wir uns in unseren Ecken, und plötzlich merkte ich,
daß mir ganz furchtbar schlecht wurde. Ich sagte es Tante Ellen. Sie gab mir
ihr Reisekissen hinter den Kopf und wischte mit Eau de Cologne meine Stirn.
Mein letzter Gedanke war: «Wenn sie nur nicht seinen Kuß von meinem Munde
wischt.» Als ich aufwachte, sah ich Tante Ellens besorgtes Gesicht vor mir, und
ich sagte: «Es ist nicht schlimm.» «Na», sagte sie, «das wollen wir nun nicht
sägen, du warst gute zehn Minuten weg.» Ich bekam Cognac, und es wurde langsam
besser. Wir fuhren Queensborough-Vlissingen, und der Weg zum Schiff auf dem
Pier wurde mir sehr schwer, obwohl ich nichts trug. Auf dem Schiff hatten wir
eine sehr schöne Kabine, die Onkel Christian vorher bestellt hatte, mit je
einem Bett in einer Ecke. Ich ging sofort zu Bett, und Tante Ellen ging zum
Essen. Sie schickte mir Tee und Toast, weil ich sonst nichts essen mochte.
Nachher setzte sie sich an mein Bett, nahm meine Hand und sagte: «Margalein,
wir machen uns große Sorge um dich, willst du es mir denn nicht anvertrauen,
ist es denn Dr. Retberg oder ist es Percy?» Ich sagte: «Es sind beide.» Da
sagte sie sofort: «Percy ist ja viel zu jung für dich, was würde das für einen
furchtbaren Krach mit deinem Vater geben, das möchte ich
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