Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Löschwasser zerstört vierhundert Pelzmäntel und Stolen. Das rothaarige Mädchen, das für den Fullback vom Boston College Team geschwärmt hatte, lag tot in der Mitte.
Der Feuerwehrhauptmann erklärte gegenüber dem Globe , dass das Feuer eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei. Wenn die Menschen nicht in Panik verfallen wären und sich auf die Ausgänge gestürzt hätten, und wenn die Feuerwehrmänner sich nicht durch Leichenhaufen hätten kämpfen müssen, um zum Feuer zu gelangen, hätte es nur eine Handvoll Tote gegeben.
Der Andrang der schreienden, drängenden Massen auf die Ausgänge, in denen die Leute dann steckenblieben, war der Grund für die meisten Todesfälle , stand am nächsten Tag in der Zeitung. Viele erstickten, und Unzählige verbrannten bei lebendigem Leib.
Insgesamt kamen bei dem Brand vierhundertzweiundneunzig Menschen ums Leben.
Nach fünftägiger Suche fanden sie Mary in einer Leichenhalle außerhalb Bostons. Sie war totgetrampelt worden, ihr Gesicht unter dem Stiefel eines Mannes zerquetscht, der doppelt so groß gewesen sein musste wie sie. Keiner konnte sagen, wie lange sie mit zertretenem Gesicht dagelegen hatte oder wie schnell sie vom Tod erlöst worden war.
An jenem Abend nahm Alice eine Whiskeyflasche aus dem geheimen Lager ihres Vaters unter der Kellertreppe und trank, bis sie das Bewusstsein verlor. Das Bett neben ihr war leer, und Alice schlief mit dem Gesicht zur Wand. Sie wachte erst lange nach dem Abendessen auf, ging ins Bad und übergab sich. Der Whiskey brannte wie Benzin in ihrem Hals, ihr Kopf dröhnte. Vor der Toilette kniend sah sie einen perlenverzierten Kamm, der ihrer Schwester gehört hatte und irgendwann hinter die Spüle gefallen sein musste. Alice zog ihn hervor, lehnte sich an die Badewanne und strich über die Zinken.
Für das, was sie diesmal getan hatte, würde sie ganz bestimmt in die Hölle kommen. Wie sie sich danach sehnte, irgendjemandem – ihrer Mutter, ihrem Bruder Tim – zu erzählen, dass Mary nur ihretwegen überhaupt in dem Lokal gewesen war, dass Alice also ihre eigene Schwester auf dem Gewissen hatte.
Ihr Vater weinte ungehemmt am Küchentisch und starrte Alice betrunken aus leeren Augen an. Alice fürchtete sich vor ihm.
Am Tag, nachdem sie Mary gefunden hatten, stieg Alice frühmorgens bang die Treppe hinunter. Sie wollte die Zeitung verstecken, bevor ihr Vater sie in die Hände bekam und in den Opferlisten nach Marys Namen suchte. Als könne sie ihn auf diese Weise vergessen machen.
Als Alice mit zitternden Händen die Tür öffnete, schlug ihr eine kalte Böe entgegen. Sie hob die Zeitung auf, und da sah sie ihn, gleich auf der Titelseite: Marys Henry. Es war ein Porträtfoto aus Collegezeiten.
Beim Lesen des ersten Absatzes verengte sich ihre Brust: Henry Winslow, Sohn von Charles Winslow III, bei Brand erstickt , begann der Artikel. Mr. Winslow, der im Jahre 1931 ein Busunglück überlebte, bei dem zwei seiner Harvard Kommilitonen und der Fahrer umkamen, führte eines der Büros des großen Frachtunternehmens Winslow Shipping Enterprises. Nach seinem Ableben im Boston City Hospital wurde ein Brillantring bei ihm gefunden. Seine Schwester, Betty Winslow, erklärte, dass er am Tag nach dem Brand um die Hand seiner Freundin Mary Brennan hatte anhalten wollen. Alles weist darauf hin, dass auch Miss Brennan den Flammen zum Opfer gefallen ist. Sie wird nun für immer Jungfrau Maria bleiben.
Alice fiel in einen Abgrund der Trauer, ein Weiterleben schien ihr unmöglich. Sie ging nach wie vor jeden Morgen zum Gottesdienst, aber die Predigten und Gebete, die ihr früher Mut gemacht hatten, sie beruhigt und ihr die Welt erklärt hatten, waren plötzlich nur noch leere Worte. Sie spürte nichts und verließ die Kirche mit immer demselben Gedanken: Sie verdiente Gottes Liebe nicht, denn sie hatte die schlimmste aller Sünden begangen.
Alice hatte ihre Schwester im Stich gelassen. Sie betete nicht um Vergebung, sondern bat Gott ihr zu zeigen, wie sie Buße tun konnte. Sie schwor, nie wieder mehr zu verlangen als ihr zustand. Von nun an würde sie ein gutes Mädchen sein und als Gegenleistung nichts erwarten.
Am Morgen der Leichenwache sagte Tante Emily zu ihr: »So, Alice, jetzt ist es Zeit, dass du erwachsen wirst. Du wirst dich um deine Eltern kümmern und ihnen viel Freude bereiten, nicht wahr?« Da begriff Alice, dass es mit ihren Träumen aus war. Sie antwortete nur: »Ja, das werde ich.« Was das wohl genau bedeutete? Auf welche
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