Sommer in Maine: Roman (German Edition)
dachte, dass sie jetzt ein schlechtes Gewissen haben sollte, das hatte sie aber nicht.
»Bitte geh sie holen«, sagte Mary.
»Ich stürz mich nicht nochmal in dieses Gedränge.«
»Sei nicht so eigensinnig. Du gehst die Handschuhe holen und ich besorge uns ein Taxi.«
»Nein.«
»Alice!«
»Warum bedeuten die dir überhaupt so viel? Henry kann dir doch jederzeit neue kaufen.«
»Musst du immer so stur sein?«
»Bin ich nicht! Ich habe Kopfschmerzen. Außerdem willst du doch unbedingt diese blöden Handschuhe wiederhaben.«
Mary blinzelte ungläubig. »Okay. Du winkst ein Taxi ran, und ich hole die Handschuhe.«
Alice antwortete nicht.
Dann drehte Mary sich stöhnend um und ging zurück ins Lokal.
Erst stand Alice reglos da. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und rauchte sie bis zum Filter.
Ein paar Minuten später bog ein Taxi langsam um die Ecke. Sie winkte es heran und setzte sich auf die Rückbank. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ohne Mary nach Hause zu fahren, sagte dann aber in letzter Sekunde zum Fahrer: »Warten Sie! Meine Schwester fährt auch mit. Sie müsste jeden Augenblick kommen.«
Alice nahm die Puderdose aus ihrer Handtasche und blickte starr in den Spiegel. Ihr Make-up war verwischt, und sie sah mindestens zehn Jahre älter aus als zu Beginn des Abends.
Warum dauerte das so lange? Wahrscheinlich gab es zwischen Mary und Henry gerade eine große Abschiedsszene im Lokal. Dabei würden sie sich ja morgen schon wiedersehen.
Der Fahrer rutschte ungeduldig auf dem Sitz herum, und Alice wurde es langsam peinlich. Jetzt mach schon , dachte sie.
Ihre Augen waren noch auf den Spiegel gerichtet, als sie eine Unruhe am Ausgang wahrnahm und laute Rufe zu ihr drangen. Dieser Krach konnte nur eines von zwei Dingen bedeuten: Ekstatische Freude oder panische Angst. Einen Augenblick lang war Alice neidisch, aber dann hörte sie das Geräusch zersplitternden Glases und das Wehklagen des Feueralarms.
Der Fahrer rief: »Um Himmels Willen! Fräulein, wir müssen hier weg.«
Alice sah verwirrt auf. Aus den Fenstern des Lokals kamen dicke Rauchwolken. Die Leute drängten von allen Seiten gegen die Drehtüren, bis das Glas zersprang. Die Menschen stolperten hilferufend und weinend auf den Bürgersteig hinaus.
Ohne darüber nachzudenken, sprang Alice aus dem Taxi, das sofort davonfuhr. Ihr stockte der Atem.
Alice suchte den Bürgersteig mit den Augen ab und betete, dass Mary schon herausgekommen war.
Sie stand wie versteinert da, und die Sekunden wurden zu Stunden. Dann ertönten Sirenen, und Feuerwehrmänner rannten an ihr vorbei und versuchten, in das Gebäude zu kommen.
»Bring dich lieber in Sicherheit, Kleine«, rief ihr einer von ihnen zu.
»Aber meine Schwester ist da drin!«, schrie Alice verzweifelt. »Sie müssen sie da rausholen!«
»Geh jetzt nach Hause«, sagte er. »Geh zu deinen Eltern. Deiner Schwester passiert schon nichts. Geh jetzt.«
Die Feuerwehrmänner liefen zu den Seiteneingängen, aber warum gingen sie nicht hinein? Alice sah, dass sie mit aller Kraft versuchten, die Türen zu öffnen. Dann rief einer der Männer über die Schulter den anderen, die den Feuerwehrschlauch abrollten, zu: »Verdammt, wir kommen nicht rein. Und die brüllen da drinnen wie am Spieß. Die Türen müssen von innen verschlossen sein.«
»Aufbrechen!«, rief jemand.
Sie holten Äxte, aber es half alles nichts.
»Das dauert zu lange«, rief wieder der erste Mann.
Alice fühlte, dass sie jederzeit das Bewusstsein verlieren konnte. Sie wollte hineinrennen, ihre Schwester an der Hand nehmen und sie aus dem Inferno retten, aber hinter dem Eingang stapelten sich die Körper schon wie umgefallene Dominosteine. Manche schrien noch verzweifelt um Hilfe, andere waren schon totgetrampelt. Alice hatte zu viel Angst, um mutig zu sein.
Die Feuerwehrmänner schlugen die Fenster ein, und so schafften es ein paar Leute nach draußen. Alice sah zu. Ihre Nerven waren am Ende. Betend suchte sie unter den Geretteten nach Marys Gesicht.
Die Straße, die noch vor wenigen Minuten ruhig und leer dagelegen hatte, war jetzt ein einziges Chaos. Diejenigen, die es nach draußen geschafft hatten, riefen verzweifelt nach ihren Liebsten, die sie zurückgelassen hatten.
Soldaten, die über Thanksgiving ein paar Tage Heimaturlaub hatten und auf der Suche nach Unterhaltung gewesen waren, mussten plötzlich Leben retten. Sie waren dem Tod an der Front entgangen, aber jetzt trugen sie Leute aus dem Feuer, rannten ein viertes,
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