Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Weise würde sie ihren Eltern am besten dienen können? Sie sah ein einsames Leben vor sich, nicht ein Leben allein, wie sie es sich erträumt hatte. Sie würde jeden Tag in der Kanzlei schuften und abends vor dem Radio sitzen, während ihr Vater sich betrank und aggressiv wurde und ihre Mutter einfach alles ignorierte. Ihr Leben würde daraus bestehen, für ihre Eltern zu kochen und sie zu versorgen, wenn sie alt und senil waren. Eben all das, was Mary sonst getan hätte.
An jenem Morgen lag ein an Mary und Alice adressiertes Kuvert im Briefkasten. Es war ein fröhlicher Brief von Jack, den er an Thanksgiving geschrieben hatte, zwei Tage vor dem Feuer:
Grüße aus der Konservenbüchse! Einen frohen Truthahntag wünsch ich Euch! Heute sind wir auch auf dem Boot in feierlicher Stimmung, obwohl wir so weit von zuhause weg sind und unsere Familien vermissen. Auf uns wartet ein königliches Abendessen, jedenfalls den Titeln der Gänge nach zu urteilen: Ofenwarme Hefebrötchen au Lyautey, Überbackenes und fein gewürztes Frühstücksfleisch à la Capitaine de Vaisseau und zum Nachtisch Apfelkuchen, Erdbeereis, Zigarren und Zigaretten! Der Captain hat gesagt, dass wir die vielen Angriffe »nicht nur mit Geschick und Glück, sondern zweifellos auch mit göttlicher Hilfe« überstanden haben. Also macht Euch um mich keine Sorgen, meine Lieben: Der liebe Gott ist auf meiner Seite.
Euer Jack
Während der Leichenwache verschwand Alice jede halbe Stunde auf die Toilette, um einen großen Schluck Wodka aus dem Flachmann zu nehmen, den Tante Rose mitgebracht hatte.
Alice war erleichtert, dass sie einen geschlossenen Sarg hatten nehmen müssen. Dennoch war es eine Folter, neben der kalten Holzkiste stehen zu müssen und ruhig die Hände unzähliger Cousins, Cousinen, Nachbarn und Freunde zu schütteln.
»Ich bin für dich da«, sagten sie, oder: »Mein aufrichtiges Beileid.«
Alice hätte ihnen die Gesichter zerkratzen können. Sie hatten doch keine Ahnung, was in ihr vorging. Außerdem fragte sie sich, wie viele der Gäste nur da waren, um an der Tragödie teilgenommen zu haben. Später könnten sie dann sagen: Ich kannte eines der Mädchen, das im Cocoanut-Grove-Feuer umgekommen ist, aus der Sonntagsschule . Ich war sogar bei der Leichenwache. Sie war so entstellt, dass sie nicht einmal einen offenen Sarg hatten nehmen können.
Ihre Familie stand neben Alice am Sarg. Die Brüder in den schwarzen Anzügen waren wie versteinert und sagten kaum ein Wort. Ihre Mutter konnte sich nicht auf den Beinen halten und saß auf einem Klappstuhl. Tante Rose fächelte ihr Luft zu. Ihr Vater stand am anderen Ende der Reihe und hatte Tränen in den Augen, die bis zuletzt nicht hinunterrollten.
Der Nachmittag schritt voran, und Alice versuchte, sich auf ein Fenster auf der anderen Seite des Raumes zu konzentrieren, durch das sie ein kleines Stück Himmel sehen konnte. In ihrem Kopf wimmelte es von dunklen Gedanken, und sie hätte am liebsten geschrien. Da standen sie am Sarg ihrer wundervollen, blutjungen Schwester, und alles war ihre Schuld. Für die meisten Leute in der Welt war es ein Tag wie jeder andere. Draußen machten Leute den Einkauf, brachten ihren Kinder das Fahrradfahren bei oder zogen sich fürs Kino um. Für Alice aber waren die Tage der Sorglosigkeit vorbei. Sie verdiente das nicht mehr. Auch ihr Leben war zu Ende.
Dann sah sie die beiden durch die Tür treten: Die Vogelscheuche Daniel Kelleher aus dem Cocoanut Grove und sein Bruder.
Als Alice ihren Platz in der Reihe verließ, spürte sie, dass ihre Eltern und Geschwister ihr mit den Augen folgten. Sie zwängte sich an den Trauergästen und dem Buffet mit Sandwiches und Kuchen vorbei und fand ihn auf der anderen Seite des Raumes, nahm ihn bei der Hand und flüsterte: »Gehen wir eine rauchen?«
Er erwiderte die Berührung, und ließ ihre Hand nicht mehr los, obwohl seine Handfläche verschwitzt war.
Draußen auf der Straße blinzelte sie in das helle Sonnenlicht. Er war wirklich nicht besonders gutaussehend, aber er war da. Sie wunderte sich selbst über die Erleichterung, die sie bei seinem Anblick unwillkürlich verspürt hatte. Sie war ihm dankbar.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie, als er ihr Feuer gab.
»Das war doch selbstverständlich«, sagte er. »Wie geht’s dir?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Mein herzliches –«
»Bitte sag es nicht«, unterbrach sie ihn.
Er nickte. »Dann sag ich einfach Danke.«
»Was? Wofür denn?«, fragte
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