Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Rückkehr und ein Leben mit ihm Angst machte.
Einige junge Frauen in Alices Bekanntschaft hatten gutbezahlte Jobs in der Waffenherstellung und bauten ihre Bomber mit einem Enthusiasmus, als würde sie später Jimmy Stewart höchstpersönlich fliegen. Abends rief Rita an und erzählte Alice aufgeregt, dass sie bei der Arbeit Hosen trugen und mit Stahlsplittern im Haar und ölverschmierten Gesichtern nach Hause gingen.
Alice behielt ihre Stelle bei der Anwaltskanzlei. Sie zog es vor, alleine zu sein, denn sie konnte nicht verstehen, warum alle so ausgelassen waren, als sei der Krieg ein riesiges Straßenfest. In der Mittagspause ging sie nicht mit den anderen auf ein Sandwich und ein Frappé zu Bingham’s, sondern nahm die Tram zum Gardner Museum und spazierte durch die Räume, die ihr nach kurzer Zeit so vertraut waren, als wäre sie hier zuhause. Vor dem Tapisseriensaal und dem Hof, auf dem man zwischen Palmen und Blumenbeeten hübsche Mosaike bewundern konnte, standen die Frauen in langen Schlangen, Alice aber kam wegen der Gemälde. Sie verbrachte viele Mittagspausen vor John Singer Sargents El Jaleo , das eine tanzende Frau, wohl eine Flamencotänzerin, inmitten weiblicher Bewunderer und Gitarristen, die ihr vom Rand des Bildes zujubelten, darstellt. Es hing als einziges Bild im Spanischen Saal, den Isabella Stewart Gardner eigens für dieses Gemälde hatte errichten lassen, noch bevor es in ihren Besitz kam.
Ein Jahr nach der Hochzeit hatte Alice die zweite Fehlgeburt. Daniel weinte, aber sie war auch erleichtert. In einem Brief erklärte sie ihm zum hundertsten Mal, dass sie nicht für die Mutterschaft geschaffen sei, aber er verstand sie nicht und antwortete nur: »Jeder hat Angst, etwas falsch zu machen. Das ist ganz normal.«
Er schrieb ihr fast täglich. In seinen Briefen erzählte er ihr Witze und Anekdoten und kopierte viele Gedichte aus einem Yeats Gedichtband, den ein Kamerad unter der Matratze versteckte. Er schrieb von seiner Kindheit und Jugend, und Alice spürte, dass sie sich Stück für Stück in ihn verliebte. Natürlich hätte sie das nicht offen zugegeben, denn was war das schon für eine Aussage: Ich verliebe mich in meinen Ehemann ? Aber die Tatsache beruhigte sie.
Die Angst, dass auch Daniel sterben würde, wuchs ständig. Das Haus für sich alleine zu haben war ein Geschenk, das war Alice klar. Aber sie war einsam und das Leben allein war überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte, wenn sie Trudy und ihre unverheirateten Freundinnen am Telefon belauscht hatte.
Eines Abends ging sie nach einem gemeinsamen Abendessen bei ihren Eltern in ihr altes Kinderzimmer hinauf. Die beiden ordentlich gemachten Betten standen da, als würden Alice und Mary jeden Augenblick nach dem abendlichen Bad hineinschlüpfen, wie immer. Alice nahm ihre Farben vom höchsten Regalbrett im Schrank. Daneben lag ihre zerlesene Ausgabe von Alleine leben und es lieben . Einen Augenblick lang hielt sie das Buch in der Hand, dann warf sie es in eine Ecke des Schrankes hinter Marys alten Tennisschläger und die vielen wunderschönen Kleider ihrer Schwester, die ihre dumme Mutter Alice aufgezwungen hatte.
Von diesem Tag an saß Alice jeden Morgen vor der Arbeit an kleinen Stillleben: Der Teekessel, Daniels Fedora, ein Weinglas vom Abend zuvor mit einem Rest Purpur am Boden. Sie malte auf Schmierpapier, das sie zur Unterstützung des Krieges sorgfältig aufbewahrt hatte – Briefumschläge und Kassenbons –, trocknete die Bilder auf dem Fensterbrett, glättete sie auf der Küchenarbeitsfläche und ließ sie dort in einer Reihe nebeneinander liegen. Der Anblick machte sie fröhlich, und sie freute sich darauf, Daniel ihre Arbeit zu präsentieren. Doch eines Morgens nur wenige Wochen später fühlte es sich an, als erwache sie aus einer Trance: Plötzlich schämte sie sich für ihr Werk. Sie musste diesen kindlichen Teil ihrer selbst für immer zurücklassen. Den Teil, der geglaubt hatte, dass ihr mehr zustünde.
Sie sammelte die Bilder ein und stopfte sie in einen Müllsack. Die Müllabfuhr von Town Hall würde sich darum kümmern. Dann warf sie auch die Farben hinterher und nahm sich fest vor, sich von nun an nicht mehr gehenzulassen. Sie ging zur Beichte, trat der Legion Mariens in St. Agnes bei, verabschiedete sich für immer vom Gardner Museum und verbrachte ihre Mittagspausen von nun an alleine am Schreibtisch.
Als der Krieg zu Ende war und Daniel endgültig aus Übersee zurückkehrte, wollte Alice ihm
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