Sommer in Maine: Roman (German Edition)
ein fünftes, ein sechstes Mal hinein und kamen irgendwann einfach nicht wieder heraus.
»Wir können nicht alle erreichen«, rief ein junger Mann, der eine beleibte ältere Dame heraustrug.
Ein anderer stöhnte: »Oh Gott! Oh mein Gott! Ich hab versucht, sie rauszuziehen, aber dann ist ihr Arm einfach abgegangen.«
Alice schrie die Männer verzweifelt an: »Sie müssen ein Mädchen rausholen, sie heißt Mary. Bitte! Sie trägt ein grünes Kleid. Bitte, bitte!«
Mittlerweile loderten die Flammen durch das Dach des Gebäudes, vor dem sich eine Menschenmenge angesammelt hatte. Die Leute blockierten die Straße, und die Löschfahrzeuge kamen nicht durch, bis die Soldaten schließlich eine Menschenkette bildeten und die Schaulustigen in die Shawmut Avenue trieben.
Es war alles so schnell gegangen. Alice wollte zum Broadway rennen. Vielleicht waren die anderen noch im Kino. Ihre Brüder würden Mary retten, das wusste sie. Bevor sie um die Ecke biegen konnte, sah sie die Leute in den kleinen Fenstern, die zur Piedmont Street führten. Sie hatten das Glas zerschlagen, aber die Metallgitter dahinter hatten nicht nachgegeben. Ihre Köpfe waren draußen und der Rettung nah, doch ihre Körper verbrannten im Inneren des Gebäudes, während sie nur schreien konnten. Auf dem Bürgersteig vor ihnen stand ein Priester und erteilte die Sterbesakramente.
Alice starrte weiter auf das Gebäude und schrie nach ihrer Schwester. Sie konnte sich nicht mehr bewegen.
Auf dem Bürgersteig und in der Autowerkstatt nebenan – überall lagen Verletzte. Irgendwann erklangen die Sirenen der Rettungswagen, die aus allen Richtungen anrückten: Aus Lynn, Newton, Brookline und Charlestown Navy Yard, aber es waren trotzdem nicht genug. Wen die Rettungswagen nicht mitnehmen konnten, den brachten Taxis ins Krankenhaus.
Dann fuhr ein Zeitungslieferwagen vor und Alice beobachtete, wie zwei Männer die Verletzten grob auf die Ladefläche warfen. Sie wollte sie davon abhalten, aber da sah sie, dass sie den Wagen mit Leichen beluden.
Alice übergab sich über einem Gully. Ihr dröhnte der Kopf. Sie schwankte, und ein uniformierter junger Mann kam auf sie zu und packte sie am Ellenbogen: »Alles in Ordnung, Fräulein? Sie müssen jetzt nach Hause gehen.«
Sie konnte sich später nicht mehr an die Straßenbahnfahrt und den Fußweg zum Haus ihrer Eltern erinnern. Aber irgendwann saß sie auf der Veranda, umgeben von einer Stille, die nach den Szenen, die sie gerade beobachtet hatte, unfassbar war. Dann öffnete sie die Tür und trat, von ihrem Körper wie im Traum getrennt, ein.
Alle saßen im Wohnzimmer. Als sie durch die Tür kam, strahlten sie vor Freude. »Du lebst!«, rief Alices Mutter. Nie zuvor hatte ihre Mutter sie so liebevoll begrüßt. »Im Cocoanut Grove ist ein furchtbares Feuer ausgebrochen. Wir haben’s im Radio gehört. Dem Herr sei Dank!«
Die Jungs sprangen auf und nahmen sie fest in die Arme, sogar ihr Vater umarmte sie. In diesem Augenblick fühlte sich Alice so geliebt, doch dann holte sie der Schrecken ein: »Mary ist nicht rausgekommen.«
»Was sagst du da?«, sagte Timmy.
Alice wollte ihnen die ganze Geschichte erzählen, aber sie schaffte es nicht.
»Ich hab sie da gesehen. Ich glaube, sie hat es nicht mehr raus geschafft.« Mehr konnte sie nicht sagen. »Ich war schon draußen, als es losging. Ich bin nicht wieder reingekommen.«
»Vielleicht ist sie vor dir gegangen«, sagte ihre Mutter. »Vielleicht hast du bloß nicht mitbekommen, dass sie schon weg war.«
Alice schluchzte. Sie konnte ihnen die Wahrheit nicht sagen. »Ja, vielleicht.«
Am nächsten Tag fiel eiskalter Regen. Bürgermeister Tobin las vor der Leichenhalle die Namen der Opfer. Ihr Vater war nicht gekommen. Alice stand neben ihrer Mutter und den Brüdern. Nach fast jedem der Namen erschallte ein Schrei in der Menge. Es war der entsetzlichste Laut, den Alice je gehört hatte und hören würde. Und wenn auf einen Namen Schweigen folgte, fragte man sich, ob die Verwandten es vielleicht noch gar nicht wussten. Vielleicht waren sie am Meer, machten mit einer Thermoskanne Kaffee in der Tasche einen Spaziergang am eiskalten Strand und hatten das Radio übers Wochenende nicht eingeschaltet. Alice wünschte sich diese Ahnungslosigkeit auch für sich und ihre Mutter.
Es dauerte eine Stunde, bis der Bürgermeister alle Namen verlesen hatte, aber Marys war nicht darunter gewesen.
»Das heißt, dass sie vielleicht noch lebt«, sagte ihre Mutter hoffnungsvoll.
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