Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Alice hätte ihr gerne geglaubt, aber sie sah den Blick in den Gesichtern ihrer Brüder.
Sie fuhren von einem Krankenhaus ins nächste.
Die Leichen derjenigen, die auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben waren, hatte man in der Nacht zuvor in den Eingangshallen liegenlassen, während Ärzte und Krankenschwestern um die Überlebenden kämpften. Die Leichen lagen noch da. Alice wurde von dem Gestank schlecht, und sie bedeckte ihre Nase mit dem Ärmel ihres Mantels.
In den Fluren des Boston City Hospital lagen hunderte Menschen auf Tragen, manche bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Man hatte Gerichtsmediziner aus dem ganzen Bundestaat gerufen, um bei der Identifizierung der Toten zu helfen, was bei den weiblichen Opfern besonders schwer war. Wenn es nicht verbrannt war, fand man im Portemonnaie der Männer meistens einen Führerschein, doch die Frauen hatten Kleider getragen, und nichts verriet ihre Identität.
Die Familie ging schweigend durch die Flure. Alice sah ausschließlich auf die Kleider und redete sich ein, dass sie das tat, weil sie wusste, was Mary getragen hatte. Aber in Wirklichkeit konnte sie es einfach nicht ertragen, in die Gesichter zu blicken. Sie hatte ihre Schwester viel herumkommandiert, aber auch beschützt. Jetzt war Mary wahrscheinlich tot, und es war Alices Schuld.
Von einer Krankenschwester erfuhren sie, dass ihnen die Blutkonserven ausgingen, und die Regierung die für Luftangriffe vorgesehenen Reserven freigegeben hatte. Außerdem erklärte sie ihnen, dass die Polizei ein für den Fall eines Luftangriffs entwickeltes System einsetzte, um bei der Suche nach Verwandten zu helfen. Dabei wurde jedem Opfer eine Karte zugeteilt: Weiß für Unidentifizierte, grün für Verletzte und rosa für identifizierte Tote. Man hatte sich so lange auf den Krieg konzentriert und eine damit zusammenhängende Katastrophe erwartet, und jetzt war es ganz anders gekommen.
Alice bot Gott ein Geschäft an: Wenn sie Mary lebend wiederfanden, würde sie nie wieder Trudy belauschen oder einen ihrer Wutanfälle haben und lernen zu kochen und sich still zu verhalten. Sie blickte zum Himmel hinauf und gab zu, dass ihre Schwester schrecklich gesündigt hatte. Aber wenn er sie am Leben ließ, würde Mary alles wiedergutmachen. Sie würde den Mann heiraten, mit dem sie sich versündigt hatte, und eine gute, katholische Familie gründen.
In den nächsten Tagen erfuhren sie, wie es zu dem Feuer gekommen war. Ein junges Liebespaar war sich in einer Ecke der Melody Lounge näher gekommen, doch irgendwann hatte das Mädchen, vielleicht wie Alice einst, gesagt, sie fühle sich unter den hellen Lichtern und mit den vielen Menschen überall dabei nicht wohl. Also hatte ihr Freund eine der Glühbirnen aus der Lichterkette geschraubt, die von einer Palme zur nächsten führte. Wenige Minuten später hatten sie das schon vergessen – vielleicht waren sie von einem neckenden Freund unterbrochen worden oder die Melodie von »Bell Bottom Trousers«, die der Pianist anstimmte, hatte sie auf die Tanzfläche gelockt.
Kurz darauf schickte einer der Barkeeper einen sechzehnjährigen Hilfskellner, die fehlende Glühbirne zu ersetzen. Der stieg auf einen Stuhl und zündete, weil es in der Nische ja so dunkel war, ein Streichholz an. Mit dem brennenden Zündholz in der einen und der Birne in der anderen Hand kam er ins Wanken und setzte eine der künstlichen Palmen in Brand.
Schnell fing auch die Festtagsdekoration Feuer, die man erst kurz zuvor im Untergeschoss angebracht hatte. Die Flammen fraßen sich die Treppe hoch durch die zarten Seidenvorhänge bis zum Dach hinauf. Bald fielen brennende Dekorationsteile von der Decke auf die Tische, die Bar, die kleine Bühne und auf die über siebenhundert Gäste, die den Saal füllten. Man hatte getanzt, getrunken und geschäkert, aber plötzlich drängte die Menge panisch zum Ausgang. Doch lebend schafften es nur die wenigsten hinaus.
Der ohnehin schlecht beleuchtete Saal füllte sich schnell mit Rauch.
Die Leute warfen sich vergeblich gegen die Seitenausgänge und wurden dort schließlich zu Tode gequetscht. Die Türen waren abgeschlossen. Andere rannten wie wahnsinnig ziellos umher und erstickten oder wurden unter den Füßen anderer verzweifelter Gäste zertrampelt. Am Ende stapelten sich die Leichen an allen Ausgängen türhoch. Überall lagen Tote. Als die Tanzfläche durchbrach, fielen sie auf den steinernen Boden des Untergeschosses.
Später fand man in der Garderobe von Qualm und
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