Sommer in Maine: Roman (German Edition)
loswerden.«
Ann Marie dachte darüber nach, dass diese Kinder in so einer Situation mit derselben Selbstverständlichkeit zu ihrem Vater wie zur Mutter gingen. Sie hätte nicht gewollt, dass Patrick den Kindern so nah war wie sie, und hatte vorgezogen, die Geheimnisse der Kindererziehung als ihr Gebiet auszuweisen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber ihr kam es noch immer komisch vor, dass ein Vater seine Tochter aufs Töpfchen brachte. Besonders, wenn die Mutter danebenstand.
»Daniel Junior und Regina kommen zum Abendessen vorbei«, sagte Patty.
»Ach ja?«
»Sie haben mich gerade im Auto angerufen, um Bescheid zu sagen. Unter eurer Nummer ist anscheinend nur die Mailbox rangegangen.«
»Wunderbar«, sagte Ann Marie. »Worauf habt ihr denn Appetit?«
Dann entstand eine lange Diskussion darüber, ob man die Küste entlang nach Kennebunkport fahren, oder zuhause bleiben und Hotdogs und Hamburger grillen sollte.
Ann Marie war glücklich. Ihre Familie wirbelte um sie herum, wie sie es am liebsten hatte, und vor ihnen lag eine ganze Woche in ihrem geliebten Sommerhaus. Die Zeit würde wie im Flug vergehen, dass wusste sie jetzt schon. Aber deshalb schickte sie erst recht ein stilles Gebet gen Himmel und bat um die Kraft, jede Minute, die ihnen hier blieb, in vollen Zügen zu genießen.
Kathleen
A m fünften Juli trat Kathleen ans Bett ihrer schlafenden Tochter und berührte sie sanft an der Schulter. Durch das offene Schlafzimmerfenster drangen Meeresrauschen und die Schreie der Möwen.
»Mags, aufwachen. Wir müssen los«, flüsterte sie.
»Wohin denn?«, fragte Maggie mit geschlossenen Augen.
»Nach Hause. Ich bring dich nach New York zurück.«
Maggie öffnete das linke Auge: »Und warum müssen wir mitten in der Nacht abreisen?«
»Es ist halb acht«, sagte Kathleen.
Jetzt öffnete Maggie auch das andere Auge: »Für dich ist halb acht Uhr morgens mitten in der Nacht. Also: was ist los?«
»Erzähl ich dir im Auto«, sagte Kathleen. »Aber jetzt ab in die Dusche. Ich will hier weg, bevor Ann Marie aufwacht.«
»Hast du was angestellt?«, fragte Maggie.
»Nein, diesmal nicht. Los, raus aus den Federn!«
Kathleen hatte die ganze Nacht wachgelegen und gegrübelt, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sollte sie Ann Marie in einem Brief versichern, dass ihr Geheimnis bei ihr gut aufgehoben war und dann noch ein paar Tage bleiben, damit keiner Fragen stellte? Sollte sie versuchen, dieses Arschloch Steve Brewer alleine zu erwischen, um ihm klarzumachen, dass er es mit ihr zu tun bekäme, wenn er nicht das Maul hielt? Oder sollte sie einfach abreisen und Ann Marie damit signalisieren, dass sich damit auch diese ganze dumme Geschichte in Luft aufgelöst hatte? An Ann Maries Stelle würde sie wollen, dass ihre Schwägerin verschwand.
Nie zuvor hatte sie das Bedürfnis gehabt, Ann Marie zu beschützen. Das war ein komisches Gefühl. Es war schön, sich selbst wachsen zu sehen, und es fühlte sich viel besser an als jede Retourkutsche und jede bissige Spitze. Wenn nur Arlo hier wäre, damit sie mit ihm darüber rede konnte.
Sie hatte ihn vor dem Schlafengehen angerufen, aber anstatt von Ann Marie zu berichten hatte sie gesagt: »Ich hab heute die Situation mal von außen betrachtet, und mir ist klar geworden, dass Maggie einfach nicht bei uns wohnen will.«
»Und wie fühlst du dich damit?«, fragte er.
Sie dachte kurz nach, dann sagte sie: »Traurig. Besorgt. Dankbar.«
»Sie schafft das schon«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Und denk dran: Es gibt nicht nur die zwei Extreme: Entweder sie zieht zu uns oder macht das ganz alleine«, sagte er. »Du kannst ja eine Zeit lang pendeln. Und vielleicht kommt sie im Sommer mit dem Baby zu uns. Wir kriegen das schon hin.«
»Ja. Wir kriegen das hin.«
»Du hast deine Tochter zu einer klugen, starken Frau erzogen«, sagte er. »Genau wie du es bist.«
Kathleen dachte darüber nach, dass sie in Maggies Alter ganz anders gewesen war. Sie hatte so viel länger gebraucht, sich selbst kennenzulernen, weil sie zwanzig Jahre mit dem Versuch verbracht hatte, jemand anderes zu sein. Maggie war keine Umwege gegangen: Sie war direkt in den Beruf eingestiegen, den sie sich wünschte, lebte in der Stadt, die sie liebte. Und selbst die Männer, mit denen sie zusammen war, waren, das musste man ihnen lassen, genau, was sie gewollt hatte. Kathleen war stolz, obwohl sie ahnte, dass das weniger ihrer sensationellen Erziehung, als den sich verändernden Zeiten zu
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