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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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Brillengläsern«, ergänzte er.
    »Ich weiß sogar noch, wie weit der gesprungen ist: 73,5 Meter. Und jedes Mal kam man vor Angst um ihn fast um. Es war einfach nicht sicher, ob er den Sprung überleben würde.«
    »Eine Frau, die die Sprungweite von Eddie the Eagle kennt. Ohne zu googeln. Sie sind ein seltenes, kostbares Exemplar.«
    Sophie grinste. Während sie in den Burger biss, analysierte sie schnell das Gesagte. Offensichtlich zählte Paul Grotemeyer sich zu den Spitzensportlern, hielt sich für einen Champions-League-Typen. Trotzdem machte er nicht den Eindruck, als wolle er den Job um jeden Preis. Wie angstfrei er ist, dachte sie verwundert. Eigentlich nicht normal. Oder ging es hier womöglich gar nicht mehr um eine Bewerbung?
    Ich bin ein seltenes, kostbares Exemplar, wiederholte Sophie in Gedanken. Heißt das, ich bin für ihn eine tolle Frau? Er schaute sie an, direkt, offen. Dann glitt sein Blick hinunter zu ihrem Mund. Er lachte leicht. Es war verrückt, ihm ging es wie ihr, ihr ging es wie ihm, sie beugte sich ein wenig nach vorn, seine Hand näherte sich ihr, so schöne kräftige Kletterhände, er würde sie gleich am Nacken greifen und zu sich hinüberziehen – dass ihr einmal so etwas Irres bei der Arbeit passieren würde …
    »An Ihrer Oberlippe hängt Mayonnaise«, unterbrach Grotemeyer ihren reißenden Gedankenstrom. »Darf ich?«
    Nun entdeckte sie die Papierserviette in seiner Hand. Sophie glaubte das Geräusch einer Nadel, die über eine Langspielplatte hinwegrutscht, zu hören. Er hatte nicht sie begeistert angeschaut, sondern den Essensrest an ihrem Mund. Wie peinlich. Sie schnappte sich die Papierserviette und sagte deutlich unterkühlt: »Danke. Das mache ich lieber selbst.«
    »Oh«, meinte Paul Grotemeyer, der den Stimmungswechsel sofort heraushörte.
    Der orange Plastiktisch, der zwischen ihnen stand, schaffte nun wieder Abstand. Er sitzt auf der einen Seite, ich auf der anderen, ermahnte sich Sophie. Die Flirterei war ein reines Hirngespinst. Er ist ein Kandidat, ich muss ihn prüfen. Bleib professionell! Überhaupt nahm das Ganze eine falsche Wendung. Johann! Mit ihm war sie glücklich verlobt. Johann war auch ein toller Typ, er war viel mehr als nur sein Beruf. Er hatte Ahnung von bildender Kunst, von Oper und eine vollständige Sammlung von US-Open-T-Shirts seit 1987 , zählte Sophie innerlich auf.
    »Reden wir endlich über Freeclimbing. Sie sind aktiv, das merkt man«, sagte Sophie mit fester Stimme. Paul Grotemeyer biss gerade genüsslich in seinen Big Mac. Plötzlich ging ihr seine Selbstsicherheit auf die Nerven. Bei ihm geriet nichts ins Rutschen, der Burger blieb gerade, dabei war er doch ein ganzes Stück höher als ihrer. Wie gelang ihm das? Es war der harte Griff eines Freeclimbers. Er hielt den Burger wie in einer Schraubzwinge gefangen. Der Kerl trainierte, vermutlich täglich.
    Grotemeyer schaute sie erstaunt an. »Woran erkennen Sie das?«, fragte er.
    »Die Hände, Ihr Griff, die Schwielen. Wer länger nicht klettert, kriegt schnell wieder weiche Hände. Und, wo waren Sie zuletzt unterwegs – Patagonien, USA, Sardinien? Oder vielleicht ein einsamer Fels irgendwo in Neuseeland?«
    Ihr abfälliger Ton war nicht zu überhören. Viele Kletterer, die gleichzeitig gutes Geld als Manager verdienten, fuhren auf Exotik ab. Damit sie dann in Meetings mit Sätzen auftrumpfen konnten wie: »Der Rope Swing durch das Magic Eye in Utah war knallhart.« Typisches Angeber-Blabla. Der Bräune nach zu urteilen war er so ein Typ. Weit weg und teuer. Zur richtigen Klettergemeinde gehörten die nicht. Doch zu ihrem Erstaunen antwortete Grotemeyer: »Letztes Wochenende war ich in der Fränkischen Schweiz.«
    »Wow, das gefällt mir«, sagte Sophie ehrlich und benahm sich wieder einmal taktisch unklug. Ein guter Assessment-Psychologe hielt seine wahren Gefühle zurück. Aber die Schlichtheit der Antwort beeindruckte sie. Für ernsthafte Freeclimber war es gleichgültig, wo die Wand stand, sie gaben nicht viel auf exotische Reiseziele. Die Alpen, die Dolomiten, Sächsische und Fränkische Schweiz, die Herausforderungen lagen vor der Haustür. Nur das Wetter war auf anderen Erdteilen oft besser und die Aussicht dramatischer.
    Mit der rechten Hand bezwang Paul Grotemeyer weiterhin seinen Big Mac. Ein Druck, der auf längere Sicht zu einer Versteinerung der Frikadelle geführt hätte. Mit der Linken griff er sich gerade Pommes. Stark trainierte Fingermuskeln, die brauchte man unbedingt.

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