Sommer mit Nebenwirkungen
schicksalhaft«, sagte eine warme weibliche Stimme neben ihr – die Dame vom Fensterplatz. Sie war schon älter, bestimmt über siebzig und sehr elegant in ein dezentes Kostüm gekleidet. Die kurzen grauen Haare waren voll und ausgesprochen gut geschnitten. Bis auf einen goldenen Reif am Arm und einen doppelten Ehering am Finger trug sie keinen Schmuck. Früher war dieser doppelte Ehering nach dem Tod des Gatten üblich gewesen. Heute sah man das nur noch selten, obwohl Frauen ihre Männer oft genug überlebten. »Ob ich an Glückskekse glaube?«, antwortete Sophie freundlich. »Klar. Besonders, wenn der Spruch irgendwie passt. Bei mir stand: Sie haben das Wichtigste vergessen. Das stimmt wahrscheinlich, ich habe so hektisch gepackt. Da fällt mir ein: Wo ist eigentlich mein Handy?«
Sie hob die Tasche zurück auf den Schoß und begann darin zu kramen. Das Problem an diesen riesigen Handtaschen war, dass in ihnen die Schwerkraft alles nach unten zog. Kramen brachte da nicht viel, bei einer ernsthaften Suche half nur ausräumen. Da der Sitz rechts von ihr noch frei war, begann Sophie, den Inhalt der Handtasche systematisch auszupacken.
Am Anfang die konventionellen Dinge – die Bordkarte, ihren Organizer, ein kleines Kulturtäschchen, ihr Portemonnaie mit Ausweisen, eine Kosmetikprobe, einen Krimi für den Flug, einen Kamm mit besonders breiten Zinken. Dann den rappenden Burger aus dem McDonald’s. Paul Grotemeyer, der Arsch. Der Anblick der Figur versetzte Sophie einen Stich, sie ließ das Ding schnell auf den Haufen neben sich fallen. Ein Werthers-Echte-Karamellbonbon, wie sie es immer beim Abheben lutschte, zwei Haarkneifer, die sie völlig vergessen hatte, ein Programmheft der Deutschen Oper, eine angebrochene Packung Zigaretten, die sie längst wegwerfen wollte, seit sie mal wieder mit dem Rauchen aufgehört hatte, eine Notiz ihres Assistenten, zwei weitere Stifte – oh, nein, halt. Sophie zögerte. Das war ja kein Stift, das war dieser verfluchte Injection Pen. So hießen die Hormonspritzen heutzutage. Eilig ließ sie das Ding wieder zurück in die dunklen Tiefen der Handtasche fallen, stopfte auch alles andere zurück. Die alte Dame neben ihr schaute aufmerksam zu.
»Kein Handy in der Handtasche«, seufzte Sophie. »Dabei bin ich sicher, ich habe es nicht zu Hause liegen lassen. Ich bin noch einmal durch die Wohnung. Stimmt, jetzt erinnere ich mich, der Koffer lag auf dem Bett, und ich hatte es so eilig, da habe ich es dort hineingestopft. Komisch, das passiert mir sonst nie. Das Handy ist mir heilig. Und somit immer griffbereit.«
»Na dann«, sagte die alte Dame zuvorkommend, »ist es doch gut aufgehoben, dort unten im Gepäckraum. In Wien sind Sie wieder vereinigt, Ihr Handy und Sie.«
»Genau«, stimmte Sophie erleichtert zu. Doch plötzlich wurde sie unsicher.
»Habe ich es ausgeschaltet? Oder ist es angeschaltet?« Nachdenklich trommelte sie mit den Fingern gegen ihre Lippen. »An oder aus? Spielt das überhaupt noch eine Rolle, ich meine, ist es heute noch vorgeschrieben, dass man beim Flugzeugstart sein Handy ausschalten muss? Oder ist das längst passé?«
In diesem Moment wurde die beruhigende Hintergrundmusik – ein instrumentales Medley aus »Raindrops keep falling on my head«, das in »Downtown« und später in »Up, up and away in my beautiful balloon« überging – unterbrochen, und es meldete sich der Kapitän per Lautsprecher zu Wort: »Meine Damen und Herren, unser Abflug verspätet sich wahrscheinlich um eine Viertelstunde, da wir noch auf drei Passagiere warten, die sich auf dem Weg zum Gate befinden. Während der Wartezeit können Sie Ihre Handys und elektronischen Geräte weiterbenutzen. Ich weise aber vorsorglich darauf hin, dass beim Start alle elektronischen Geräte und Handys abgeschaltet werden müssen. Vielen Dank.«
»Das ist wohl Ihre Antwort«, sagte die alte Dame mit einem leichten Lächeln. War es spöttisch? Oder nur lebensklug?
»Verdammt, verdammt«, fluchte Sophie, »was mache ich denn jetzt bloß? Muss ich der Stewardess Bescheid geben? So ein einfaches Handy, das kann doch nicht so schlimm sein. Das bringt doch keine Maschine zum Absturz. Oder doch?« Hilfe suchend schaute sie die alte Dame an. »Leiden Sie unter Flugangst?«, fragte die alte Dame sehr freundlich. Sie wirkte so ruhig und souverän. Ihre Hände hatte sie im Schoß ihres Kostüms zusammengefaltet. Schöne Hände, die im Leben angepackt hatten. Mütterliche Hände. Mädel, jetzt übertreib mal
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