Sommer mit Nebenwirkungen
nicht, dachte Sophie und zwang sich, den Blick abzuwenden. Was hatte sie gefragt – Flugangst? Sophie, die Vielfliegerin?
»Nein, ganz sicher nicht.« Sie schielte zum Mittelgang, ob sich womöglich eine Stewardess näherte. Dann könnte sie fragen, ob ein angeschaltetes Handy im Gepäckraum ein Problem sei. Vermutlich nicht. Heutzutage passierte das bestimmt ständig.
»Und obwohl das Handy Ihnen so wichtig ist, vergessen Sie es im Koffer. Kam das schon einmal vor?«, fragte die alte Dame weiter.
»Nein, nie«, sagte Sophie fahrig. »Eigentlich sind mein Handy und ich unzertrennlich. Ich war allerdings beim Packen unkonzentriert. Es ist etwas passiert. Etwas Privates …« Sie brach ab.
»Deshalb haben Sie hektisch gepackt«, stellte die alte Dame fest. Ganz schlicht. Sophie schielte zu ihr hinüber. Sie wirkte wohltuend lebenserfahren.
»Genau, ich fliege jetzt zu meinem Freund. Inzwischen ist er sogar mein Verlobter. Meine Chefin hat mich zu dem Urlaub gezwungen. Sie meinte, ich solle mal ausspannen. Ausspannen in Wien, ich meine, das ist doch ein Witz. Keine Ahnung, warum ich hier eigentlich sitze. Es schien halt am vernünftigsten, zu Johann zu fliegen. Wir sehen uns eh kaum. Habe ich das Handy nun an oder aus? Was mache ich bloß?«
Die alte Dame hielt einen Moment inne, dabei spielte sie an ihrem doppelten Ehering. Diese Hände, dachte Sophie wieder. Solche Hände möchte ich auch haben, wenn ich alt bin.
»Haben Sie schon mal vom Gegenwillen gehört?«, fragte die alte Dame nachdenklich, ohne hochzuschauen. Sie wirkte regelrecht versunken.
Sophie schaute sie überrascht an. »Na klar. Das ist doch ein Begriff aus der Psychoanalyse«, antwortete Sophie. Die Psychoanalyse, die Wissenschaft Sigmund Freuds, um die hatte Sophie im Studium immer einen großen Bogen gemacht. Aber an den Grundlagen war auch sie nicht vorbeigekommen.
»Genau.« Die alte Dame lächelte erfreut. »Ich merke schon, Sie haben Kenntnis. Womöglich wissen Sie auch, dass wir Anhänger der Psychoanalyse nicht an den Zufall glauben, nicht an zufällige Versprecher oder daran, dass man wichtige Dinge einfach so verlegt. Alles hat seinen tieferen Grund – es ist das Unbewusste, das zu Ihnen spricht. Sein Recht verlangt. Und Sie so handeln lässt, wie Sie handeln. Aber entschuldigen Sie, meine Liebe, womöglich interessiert Sie gar nicht, was ich rede.«
»Doch, doch«, ermunterte Sophie sie. »Sprechen Sie weiter. Das klingt interessant.« Das Misstrauen in ihrer Stimme war allerdings nicht zu überhören. Psychoanalytiker, das waren irgendwie Spinner. Gleich würde die Frau mit einer gestörten Mutter-Vater-Kind-Beziehung kommen. Oder mit dem absurden Penisneid. Jetzt musste Sophie grinsen, einen ausgewiesenen Penisneid hätte man dieser eleganten Dame gar nicht zugetraut.
»Sie haben Ihr geliebtes Handy in Ihren Koffer gepackt – scheinbar ein Versehen. Und nun fragen Sie sich, ob es an ist oder aus. Gut, ich bin inzwischen eine alte Frau, aber so viel begreife ich noch von dieser Welt: Kein Mensch des 21. Jahrhunderts stopft sein Handy in den Koffer zwischen Socken und Unterwäsche. Das ist eine unbewusste, aber sehr zielgerichtete, destruktive Handlung. Diese Tat ist der Ausdruck einer – wie wir es in der Fachsprache sagen – ›verborgenen Regung‹, also eines verdrängten Gegenwillens. Das heißt: Ein Teil von Ihnen will nicht abfliegen. Womöglich reisen Sie zum falschen Mann?«
Nun war es raus. Sophie blieb der Mund offen stehen. Wie bitte? »Das ist aber eine ziemlich kühne Behauptung.«
Die alte Dame legte beschwichtigend ihre Hand auf Sophies Arm. »Verstehen Sie, ich bin es gewohnt, meine Beobachtungen zu machen und meine Schlüsse daraus zu ziehen. Es ist nur eine Beobachtung und eine Interpretation dieser Beobachtung. Und ja, Sie haben recht, sie ist ziemlich kühn. Ich kenne Sie ja gar nicht. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahegetreten bin. Sie wirkten nur so …«, die Frau suchte das richtige Wort, »… erschüttert, als Sie hier einstiegen.«
Die warme Hand auf ihrem Handrücken, der durchdringende, aber freundliche Blick, plötzlich fühlte sich Sophie ertappt. Erschüttert habe sie gewirkt, als sie den Flugzeuggang hinunterging. Sah man ihr diesen furchtbaren Tag so sehr an? Und gab das ihrer Sitznachbarin das Recht, einen Röntgenblick in ihre Seele zu wagen? Schon nach wenigen Minuten des Nebeneinandersitzens analysierte sie Sophies Leben. Das war doch übergriffig. Ebenso wie die Hand auf ihrem
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