Sommer mit Nebenwirkungen
Arm. Genau in diesem Moment zog die Dame ihre Hand weg. Sophie fühlte sich herausgefordert.
»Ich erinnere mich noch dunkel aus dem Studium: Zur Psychopathologie des Alltagslebens , so heißt doch ein berühmtes Buch von Sigmund Freud. Darin geht es doch um Versprecher oder Briefe, die man zurückhält. Oder Briefe, die man abschickt, aber die Briefmarke vergisst. Und immer heißt es, es sei das Unbewusste, das einen lenkt. Sie meinen also, ich will nicht fliegen – womöglich, weil mich der falsche Mann in Wien erwartet.« Jetzt kam Sophie in Fahrt, ihre Stimme wurde wieder klarer, lauter, endlich, nach all dem Durcheinander der letzten Stunden, fühlte sie sich wieder selbstsicher. Sie wollte die alte Dame, die so ruhig neben ihr saß und weiterhin freundlich lächelte, aus der Reserve locken. Und die ganze Psychoanalyse gleich mit. Zeit für ein kleines Experiment.
»Schauen Sie, ich lege meinen Finger an den Klingelknopf für die Flugbegleiterin, sehen Sie genau hin, ich berühre den Knopf richtig. Nach Ihrer Logik müsste mir jetzt ein Versehen geschehen, eigentlich will ich nicht, aber – ups – ich drücke den Knopf. Und siehe da, schnell kommt die Stewardess herangerauscht: ›Fräulein, in meinem Koffer liegt ein Handy – und ich weiß nicht genau, ob das an oder aus ist. Ist das schlimm?‹ Und die Stewardess würde womöglich antworten: ›O ja, da müssen wir das ganze Gepäck wieder ausräumen, damit Sie im Koffer nachschauen.‹ Die Reise wäre also unterbrochen, wenn nicht gar verschoben. Nennt man das nicht eine klassische freudsche Fehlleistung? Aber sehen Sie doch …«
Triumphierend zog Sophie die Hand zurück. Kein Lämpchen leuchtete. Nichts war gedrückt worden. Keine Flugbegleiterin eilte herbei.
»Der Knopf ist nicht gedrückt, denn ich will wirklich fliegen. Bewusst und unbewusst. Kein Knopfdruck heißt wohl: Es scheint der richtige Mann zu sein, der mich in Wien erwartet. Sie haben mich eben gefragt, ob ich an Glückskeks-Botschaften glaube. Diese Anti-Freud-Botschaft trifft für mich hundertprozentig zu: Johann ist der Mann für mich, der Mann fürs Leben«, dozierte Sophie förmlich, und je länger sie sprach, desto lauter wurde sie. Inzwischen hörten auch die hinteren Reihen interessiert zu.
Die alte Dame lächelte immer noch leise vor sich hin. Gab es eigentlich in der Ausbildung für Psychoanalytiker so eine spezielle Stunde, wo sie dieses distanzierte, wissende Lächeln erlernten? Die übten das bestimmt vor dem Spiegel. Warum sagte sie nichts? Die ganze Zeit hatte sie doch gefragt und gebohrt – und nun blieb sie stumm.
Sophie hingegen musste weiterreden. »Im Übrigen …«, setzte sie mit gesenkter Stimme an, »… geht es bei dieser überstürzten Reise überhaupt nicht um den Mann, es dreht sich auch nicht um die Liebe. Mein Arbeitstag endete heute im Chaos, ich habe einem Assessment-Kandidaten eine Ohrfeige verpasst, der übrigens ein getarnter Reporter war, nachdem er mir auf den Kopf zugesagt hat, Frauen wie ich würden verbittert und kinderlos enden. Und als sei das noch nicht genug, habe ich versehentlich meiner Chefin eine Mail geschickt, in der stand, wie sehr ich mir ein Baby wünsche. Aber ich werde einfach nicht schwanger. Daraufhin hat mir die Chefin, selbst Mutter dreier wohlstandsverwahrloster Kinder, eröffnet, meine Kinderlosigkeit sei doch besser für mich, ich sei kein mütterlicher Typ. Zusammengefasst war das mein Tag. Kann einen schon durcheinanderbringen, oder? Und deshalb liegt jetzt mein Handy im Koffer. Deshalb – und nicht wegen irgendeines freudschen Gegenwillens.«
Das leise Lächeln der Dame verschwand. »Oh, das tut mir leid«, sagte sie, und es klang wirklich berührt. Wieder machte sie einen Moment Pause. Sophie hatte heftig auf sie eingeredet, doch die alte Dame ließ sich davon nicht beirren, sie nahm sich die Zeit, die sie zum Denken brauchte. »Eben, als Sie die Handtasche auspackten, habe ich diese moderne Spritze erkannt. Eine meiner Schwiegertöchter musste sie auch eine Weile anwenden. Gibt es denn für Ihre ausbleibende Schwangerschaft irgendwelche physischen Gründe?«
»Nein, der Arzt in der Fruchtbarkeitsklinik konnte nichts Konkretes finden. ›Idiopathisch‹ lautet die Diagnose. Übersetzt: keine fassbare Ursache.«
»Also womöglich doch der falsche Mann«, murmelte die alte Dame sehr leise vor sich hin, aber Sophie hörte sie nicht, sie wurde von den unterdrückt aufgeregten Stimmen hinter sich abgelenkt.
»Wie
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