Sommer mit Nebenwirkungen
achtunddreißig Jahre – ich kann es mir überhaupt nicht leisten, mich neu zu verlieben. Denn welcher Mann würde dann sofort sagen: O . k., du bist meine Traumfrau, also machen wir gleich Kinder. Mit achtunddreißig Jahren ein Single mit Kinderwunsch zu sein, das ist eine ganz beschissene Lage. Und Johann ist ein guter Kerl, er wird bestimmt ein verlässlicher Vater und Ehemann.«
»Klingt irgendwie gruselig«, meinte Katalin. »Abhängig zu sein.« Damit schien die weitere Richtung der Diskussion klar. Sophie hatte sich vorgewagt, etwas ausgesprochen, nun bekam sie die Quittung. Gruselig.
Doch ganz unerwartet sprang ihr Julia zur Seite. »Ich finde das überhaupt nicht gruselig – Sophie spricht doch nur aus, wie es ist. Das geht uns doch allen so, dir, Katalin, und Zoe auch. Mark und ich, sind wir das perfekte Paar? Nein. Aber wenn ich mich jetzt von ihm trennen würde, dann würde ich einen viel höheren Preis zahlen als er. Weil Mark in zehn Jahren immer noch Vater werden kann – sollte er eine jüngere Frau finden. Für mich dagegen ist der Zug dann abgefahren. Ich finde es gut, dass Sophie so ehrlich ist, sich das einzugestehen. Manchmal ist man abhängig – na und? Wer ist denn schon rund um die Uhr unabhängig? Ich kenne niemanden – ihr vielleicht? Dieses Getue, dass man ständig frei sei und alles ausschließlich so entscheiden kann, wie es einem selbst passt, das ist doch …« Julia suchte das passende Wort.
»… Selbstbetrug?«, schlug Sophie vor.
»Genau!«, rief Julia.
Wind kam nun auf und pfiff durch die steinerne Schlucht. Jetzt wurde noch deutlicher, wie unwirtlich diese Gegend war.
»Aber was ist«, sagte Zoe leise, »wenn wir alle auf den falschen Mann setzen? In diesen letzten Jahren. Auf einen, mit dem es mit dem Kinderkriegen nicht klappen kann.«
»Das ist Pech«, sagte Katalin.
»Das ist mehr als Pech. Das ist das Ende«, meinte Zoe mit düsterer Stimme. Das war kein Scherz mehr.
Sophie musste trotzdem grinsen und zog ihr Buch aus der Tasche, das sie mit heraufgebracht hatte. »Wisst ihr was – Sigmund Freud hat sich auch solche Gedanken gemacht. Ihm gefiel beispielsweise der Verlobte seiner Tochter Mathilde anfangs nicht. Warum? Weil er einen schlechten Charakter hatte? Nein. Weil er ihn zu schwächlich fand. Er meinte, er sei ›der Schonung bedürftig‹ und ›für den Kampf ums Dasein nicht geeignet‹.«
»Warum in aller Welt musste denn der Mann seiner Tochter für den Kampf um das Dasein geeignet sein?«, fragte nun Katalin.
»Weil seine Tochter schon immer sehr kränklich war. Der Schwiegersohn sollte das wohl ausgleichen – ich glaube, ganz im biologistischen Sinne. Durch gute Gene. Damals, Anfang des letzten Jahrhunderts, kamen solche Gedanken groß in Mode. Für ihn war die Ehe ein Kraftakt. Ich lese euch mal was vor …« Sophie öffnete das Buch und blätterte eine Weile. »Ah, da ist die Stelle. Als seine noch sehr junge Tochter Mathilde ihrem Vater mitteilt, sie wolle sich mit Robert Hollitscher verloben, schreibt er ihr: ›Du weißt, ich habe mir immer vorgenommen, Dich wenigstens bis zum 24. Jahr im Hause zu behalten, bis Du für die Aufgaben der Ehe und vielleicht des Kinderhabens ganz erstarkt bist und die Schwächungen repariert hast, die die drei großen lebensgefährlichen Erkrankungen während Deines jungen Lebens Dir hinterlassen haben.‹«
»Für die Aufgaben der Ehe und des Kinderhabens erstarkt – oha, das klingt ja bedrohlich. Eine glückliche Ehe ist doch auch ohne Kinder möglich. Oder sah das der Doktor anders?«, fragte nun Zoe vorsichtig.
»Die Antwort wird dir nicht gefallen«, meinte Sophie.
»Lass hören«, meinte Julia.
Sophie blätterte schon wieder, um die richtige Stelle zu finden. »Ah, hier. Was ich jetzt vorlese, galt übrigens ausdrücklich für die Ehefrau, nicht für den Ehemann. Also Freud meinte: ›Im Falle der Kinderlosigkeit entfällt so eine der besten Möglichkeiten, die für die eigene Ehe erforderliche Resignation zu ertragen.‹ Alles klar?«
Julia stöhnte auf. »Um das zu verstehen, muss man studiert haben.«
»Ist doch ganz einfach: Die vom Ehemann frustrierte Ehefrau erträgt die langjährige Ehehölle am leichtesten, wenn sie auf die Kinder ausweichen kann. Von denen kriegt sie wenigstens etwas zurück«, sagte Zoe.
Alle vier schwiegen. Jede hing so ihren Gedanken nach.
»Na ja, es ist schon eine Weile her, dass Freud das geschrieben hat. Über hundert Jahre«, gab Sophie zu bedenken.
»Stimmt –
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