Sommer mit Nebenwirkungen
hielt sich noch lange, bis in die Neuzeit. Die Bauern hier in der Gegend glaubten fest an das Tier in der Frau. An den Wousnhottl, wie man hier oben sagt.«
»Wusenhotel«, wiederholte Sophie fassungslos.
»An Ihrem Dialekt sollten Sie noch arbeiten«, kommentierte Studnitz. »Auf jeden Fall wurde die Kröte zum Symbol für Fruchtbarkeit und Kinderwunsch. Deshalb die vielen Kröten in dem Votivraum hinter der Quelle. Und deshalb kommt das Wunderwasser aus dem Maul der Kröte.«
Sophies Gesicht gab zu erkennen, dass ihr diese Vorstellung immer noch unangenehm war.
»Wenn es Sie beruhigt, die Wissenschaft hat ja mit dem Krötenglauben gründlich aufgeräumt«, beschwichtigte er.
»Die Wissenschaft, die Wissenschaft«, äffte Sophie ihn nach. »Trotz der tollen Wissenschaft sitze ich hier oben in den Bergen und trinke täglich Krötenwasser. Wie in einem Märchen.« Sie zeigte auf die Obstlerflasche. »Einen brauche ich noch auf den Schreck.«
»Kommt sofort«, meinte von Studnitz und goss nach – zweimal, für sie und für ihn. Sie tranken die Gläser in einem Zug aus.
Wieder schwiegen sie eine Weile. Wie angenehm man neben diesem Mann schweigen konnte. Keine Anspannung lag darin, keine Erwartung, nur Ruhe. Die Minuten vergingen, sie schlenderten dahin, und der Alkohol begann sanft zu wirken. Und plötzlich wurde aus der Ruhe eine prickelnde Unruhe. Es lag Spannung in der Luft. Prickelnde Unruhe? Bei dem sonderbaren Kerl? Sie schielte zu ihm hinüber. Trank sie sich von Studnitz womöglich gerade schön? Er war doch nun wirklich nicht ihr Typ. Intelligentes Gesicht, aber er war ihr zu schmächtig. Sie war ja sonst eher der Jane-sucht-Tarzan-Typ. Und von Studnitz – der war definitiv kein Tarzan. Mit seiner dürftigen Muskelmasse an den Armen würde er sicherlich nie einen Wagenheber ersetzen, und er gehörte auch nicht zu den Typen, die man nachts bei einem Spaziergang durch die Berliner Hasenheide zum Schutz an der Seite haben wollte. Dann doch lieber einen Elektroschocker. Aber er war süß. Wie zartfühlend er ihr diesen Plato-Kram nähergebracht hatte – außerdem hatte er einen knackigen Po.
Oh, oh. Bin ich betrunken?
Jetzt griff er in seine Hemdtasche und zog eine Packung Zigaretten heraus. Das machte ihn noch attraktiver. »Kleine Beilage zum Schnaps?«, fragte er und klang ein bisschen so, als sei er selbst ein Hasenheiden-Dealer. Sophie musste grinsen und nahm das Angebot dankend an. Nach Mitternacht im Freien Schnaps trinken und dabei Zigaretten rauchen – wann hatte sie das zuletzt getan? Mit Johann ging sie zwar viel aus, aber meist sehr gesittet; oft waren ja Geschäftspartner dabei, da ging es gediegen zu. Johann achtete außerdem sehr auf seine Linie, mied das Weißbrot auf dem Tisch genauso wie Bier und Schnaps. Zu viele Kalorien. Und Zigaretten? Ging gar nicht. Rauchen gehörte in der Wirtschaftswelt inzwischen zu den No-Gos. Es war eine sterile Welt. Ganz anders als die Krötenwelt hier oben.
Höflich hielt er ihr das Feuer hin, und als der Tabak knisternd mit der Flamme zusammentraf, begegneten sich ihre Augen. Sein Blick überraschte sie. Sophie wurde schlagartig klar, dass er ganz bei sich war und dass er gleichzeitig um sie warb. Er wollte etwas von ihr und war doch zurückhaltend, fast schüchtern. Was für eine verwirrende Mischung, besonders nach zwei Obstlern.
Schweigend rauchten sie ihre Zigaretten. Einen kurzen Moment erwischte sich Sophie bei dem Gedanken, ihn jetzt berühren zu wollen. Sie erschrak. Welchen Weg schlug sie da gerade ein? Sie drückte ihre Zigarette aus. Bloß wieder reden.
»Glauben Sie eigentlich an dieses Wasser?«, begann sie. »Ich meine, glauben Sie, dass es wirkt? Und ich will jetzt nicht die Geschichte Ihrer Mutter hören, sondern wie es den Tausenden anderen Frauen erging, die hier hochkamen«, unterbrach Sophie die Stille. Niemand kannte die Quelle so gut wie von Studnitz, der hier aufgewachsen war.
»Schwer zu sagen«, antwortete er, »manchmal scheint das Wasser tatsächlich zu helfen, aber manchmal auch nicht. Es gibt keine Garantie. Ich weiß nicht, was wichtiger ist – die Quelle oder dass manche Frauen hier oben einfach loslassen und zu sich kommen. Viele Jahre habe ich das Sanatorium völlig abgelehnt, sehr zum Verdruss meiner Eltern. Ich bin durch die Welt gezogen, habe etwas ganz anderes studiert. Aber dann kam ich für einen Sommer zurück und begriff endlich, was für ein Geschenk dieser Ort ist. Wo findet man noch mal so etwas auf der
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