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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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sie die Decken aus und setzte sich hin. Dieser Raum war ihr vertraut, hier fühlte sie sich sicher. Das rechte steinerne Auge der großen Kröte betrachtete sie wohlwollend. Nein, sie war kein Eindringling, sie gehörte dazu.
    Sophie lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand und merkte, wie sie sich entspannte und zugleich aufgeregter wurde. Ihr Herz klopfte. Sie zog das Aufnahmegerät aus der Tasche und drückte auf »Play«. Das Display zeigte eine Sprachaufnahme von dreiunddreißig Minuten und einunddreißig Sekunden an. Und dann hörte sie Paul Grotemeyers Stimme zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder.
    Sofort war sein Geruch wieder da. Der Geruch eines Menschen, der viel Zeit draußen verbrachte. Erstaunlich, was der Klang einer Stimme auslösen konnte. Noch viel mehr als ein Bild regte eine Tonaufnahme die Fantasie an und fütterte die Erinnerung. Deshalb war der vergessene Geruch wieder da, nur ganz flüchtig, im nächsten Moment war er schon wieder weg. Bei Sophie krampfte sich innerlich alles auf die allerschönste Art zusammen.
    »Es tut mir leid, Sophie«, begann Paul nun, »ich kann es nur immer wieder sagen, es tut mir wahnsinnig leid, und wenn ich ungeschehen machen könnte, was ich damals bei McDonald’s gesagt habe, ich würde es tun. Aber so läuft es nicht. Bist du noch da, Sophie? Ich hoffe, du hast mich nicht jetzt schon wütend abgestellt, und solltest du gerade nach dem Gerät greifen, bitte Sophie, nicht … hör mich an.«
    Sophie musste grinsen. Er kämpfte um ihr Gehör. Dann drückte sie tatsächlich kurz die Stopp-Taste, um durchzuatmen. Zu viele Gefühle auf einmal, Sophie wurde regelrecht überwältigt. Seine Stimme – sie berührte sie. Hatte sie Paul Grotemeyer etwa unbewusst vermisst? Das konnte doch nicht sein. Sie hatte doch alles wütend weggestoßen, was von ihm kam. Wo war ihre Wut hin? Seine Stimme war da, sie umfing Sophie. Ihr schien, sie spräche so nur zu ihr, zu niemandem sonst auf der Welt. Und obwohl sie Paul Grotemeyer nur einmal gesehen hatte, erinnerte sie sich plötzlich wieder an viele kleine Details. Als habe sich die Begegnung eingebrannt.
    Sie schloss die Augen und sah sich nun selbst an der Natursteinwand hängen, sah den Moment des Loslassens und wie Paul nach ihr griff. Ein kurzer, schmerzhafter und doch glücklicher Moment. Das alles war zwei Wochen lang unter ihrer Wut begraben gewesen. Jetzt waren die Bilder, waren die Gefühle wieder da; unübersehbar und stark.
    Mal sehen, was er dazu sagte. Sie stellte den Rekorder wieder an.
    »Ich fühlte mich so von dir vorgeführt, als du da hochgeklettert bist, vorgeführt als Vollidiot, der ich ja auch war. Aber Sophie, du musst verstehen, ich hatte mich als Journalist ins Assessment-Center eingeschleust, um eure Methode zu entlarven. Um dich zu entlarven. Denn noch heute ist mir diese Art, Menschen psychologisch zu durchleuchten, zutiefst suspekt. Suspekt? Auf Deutsch gesagt finde ich, das ist zum Kotzen. Aber dann traf ich dich – und du … du, du warst so anders als erwartet. Viel wärmer, zweifelnder, wilder.« Er musste lachen. »Du siehst wirklich toll aus, wenn du kletterst. Das brachte mich völlig durcheinander. Und plötzlich war ich wütend auf mich, auf dich sowieso, aber gleichzeitig …«
    Er brach ab, sammelte sich wohl. Im Raum war es deutlich dunkler geworden, die Sonne sank, und Sophie meinte sogar den Essens-Gong zu hören. Sie verspürte keinen Hunger, es war ihr auch egal, ob jemand nach ihr suchte. Jemand? Johann. Es war ihr egal.
    »Dieses seichte Gerede hinterher ist schrecklich. Es ging schief, ich habe mich eklig benommen, und es tut mir leid. Aber weil ich weiß, wie billig eine Entschuldigung ist, habe ich gedacht, ich mache was für dich. Helfe dir. Deine Chefin hat mir ja verraten, wo du gerade bist: Marienbrunn in Südtirol. Die Frau ist ja wirklich eine hohle Nuss …«, er lachte, und auch Sophie musste lachen, »… ich bin mir sicher, da sind wir uns einig. Die hat mir alles über dich haarklein berichtet, ich weiß inzwischen mehr über Hormontherapien, als mir lieb ist. Mitarbeiter-Denunziation ist ihr Sport. Sie war noch ganz aufgebracht, hatte kurz zuvor mit deinem …«, jetzt stockte er, suchte das richtige Wort, »… Kerl telefoniert …«, offenbar brachte er das Wort »Verlobten« nicht über die Lippen, »… der genauso aufgebracht schien. Mensch, Sophie, du bringst alle durcheinander. Auf jeden Fall hat sie mir sofort von dem Wasser erzählt, dich eine

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