Sommer mit Nebenwirkungen
Spinnerin genannt, und irgendwann fiel der Name Mathilde Freud. Da wurde ich hellhörig.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe keine Ahnung, wie viel du über sie erfahren hast; vielleicht weißt du noch nicht alles. Also dachte ich, ich schenke dir eine Recherche.«
Stille. Eine Recherche? Das war nun doch irgendwie – ernüchternd.
»Ich kann halt nicht viel anderes. Ich bin Journalist.«
Stille.
»Eine Recherche zu schenken klingt ziemlich bescheuert, jetzt wo ich es sage, deshalb schicke ich Blumen mit. Damit die Recherche nicht so spröde und nackt dasteht. Ach, und das Aufnahmegerät darfst du auch behalten. Ein praktisches Teil. Sie wurden in unserer Redaktion gerade ausgemustert und gegen digitale Technik ersetzt. Aber ich schwöre auf diese alten Teile, die halten wirklich was aus.« Sophie musste grinsen, weil sie daran dachte, dass das Aufnahmegerät fast eine Woche lang auf einer Schafswiese überlebt hatte. Angeknabbert von den Viechern, Morgentau und Abendnebel trotzend. Nein, allzu empfindlich war es ganz offensichtlich nicht. Zum Glück hatte es nicht geregnet.
»Doch vielleicht hast du mich ja auch längst ausgeschaltet – was kann ich tun? Ich bin dir ausgeliefert und mache jetzt einfach weiter.«
Sie hörte Papierrascheln. Was genau hieß das, eine Recherche schenken? Sophie merkte, wie ihre Anspannung wieder stieg.
»Also: Mathilde Freud …«, begann er, unterbrach sich aber wieder, weil er offenbar ein Blatt suchte. »Ich bin leider kein sehr aufgeräumter Typ«, murmelte er ins Mikro, »… außer bei meinen Klettersachen, ich meine, das kennst du ja, die müssen in Ordnung sein, denn da draußen in den Bergen bist du nur für dich selbst verantwortlich. Aber wenn es nicht gerade um Leben und Tod geht, neige ich zu leichtem Chaos … ah … jetzt habe ich es …«
Sophie musste lachen. Wo hatte er wohl gesessen? Im Büro? Zu Hause?
Es war, als ob er Gedanken lesen könnte. »Falls du dich wunderst, ich sitze übrigens zu Hause in meiner Berliner Wohnung – die Balkontür steht offen, warte mal, ich halte das Gerät mal raus …«
Sophie hörte vertraute Stadtgeräusche, Autos fuhren an, ein Fahrradfahrer klingelte hektisch, jemand brüllte »Hau ab, du Penner«, nun rumpelte eine Straßenbahn vorbei.
»Du hörst, Innenstadtlage. Und als Berlinerin weißt du ja, in welchem Teil der Stadt die Straßenbahn fährt. Da wohne ich. Übrigens allein. Ungebunden. Wollte ich nur mal erwähnen. So nebenbei. Ich weiß ja, du bist verlobt. Aber …« Er musste lachen.
»Ich trage mal lieber weiter meine Rechercheergebnisse vor. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich kann dir nicht sagen, ob Mathilde Freud wirklich jemals dort oben war, wo du jetzt bist. Es gibt vage Hinweise, mehr nicht. Die Familie Freud kannte Südtirol gut, sie hat dort viele Urlaube verbracht, Sigmund Freud war ein leidenschaftlicher Spaziergänger und Pilzsucher. Es gibt Bilder von seiner jüngsten Tochter Anna im Dirndl und von seinen drei Jungs Oliver, Martin und Ernst in Lederhose, Trachtenjanker und Hut, mit Spielzeuggewehren in der Hand. Und deine schöne Mathilde vor dem gemalten Bergpanorama beim Fotografen. Alle waren Gebirgsfans, nicht ungewöhnlich, wenn man in Wien wohnt. Und ja – im Sommer 1910 fragte sich Vater Sigmund irritiert, wo eigentlich seine älteste Tochter abgeblieben sei. ›Von Mathilde haben wir ewig lange nichts mehr gehört‹, schrieb er in diesem Jahr in einem Brief aus Holland, wo der ganze Rest der Familie zusammen Urlaub machte. In diesem Sommer war Mathilde ganz sicher in Südtirol zur Kur, nur zwanzig Kilometer entfernt von Marienbrunn. Das zumindest ist belegt – ihr Mann Robert Hollitscher begleitete sie, musste aber immer wieder für ein, zwei Wochen abreisen, um zu arbeiten. Das Alleinsein störte Mathilde nicht. Wie man kurte, das wusste sie schon früh: ›Ich treibe fleißig Kur mit Trinken, Baden, Essen, Faulenzen, liege den ganzen Tag wie ein Eidechs an der Sonne und fühle mich unbeschreiblich wohl.‹ Vielleicht hat sie mal eine Weile das Sanatorium gewechselt, das kann gut sein. Niemand hätte es mitgekriegt. Marienbrunn lag so nah. Auf jeden Fall, als sie nach diesem ausgedehnten Kuraufenthalt nach Wien zurückkehrte, ging es ihr blendend. Besser als nach irgendeiner Kur zuvor. Sie war gesund! Wir schreiben das Jahr 1910. Ihr Vater sprach von den nächsten beiden Jahren als eine ›excellent time‹ für seine Tochter, so hat er es ausgedrückt. Ein wenig Englisch war
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