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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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verdienen. Klar, man konnte versuchen, alles zu optimieren; deshalb war sie ja in die Klinik gegangen. Aber ob es am Ende wirklich reichte? Das stand in den Sternen.
    Sie war bei der steinernen Kröte angekommen. Eine Kröte, ein Frosch. Es war wie im Märchen. Manchmal küsste man sie, und es wurde ein kleiner Prinz daraus, eine kleine Prinzessin. Aber manchmal blieb es nur eine Kröte, ein träge lauernde Kröte in der Gebärmutter.
    Manchen Frauen war ein Kind einfach nicht vergönnt. Das war die Wahrheit.
    Ihr wurde übel.
    Sie, die kinderlose Frau, war einer anderen kinderlosen Frau auf der Suche nach einer Lösung, einer Erlösung hinterhergereist. Was für ein tieftrauriger Witz. Machte das Schicksal sich über sie lustig?
    Die Kälte kroch aus den Wänden und in ihren Körper. Sophie begann zu zittern. In diesem Raum, wo sich so viel Glück versammelte, so viel Dankbarkeit und Heiterkeit, gehörte sie zu der dunklen Minderheit, der die Erlösung nicht vergönnt war. Der Weg hier hoch endete in einer Sackgasse; genauso wie der Gang in die Klinik. Sie griff sich die wärmende Wolldecke aus der Liegehalle und zog sie eng um den Körper, um das Zittern zu dämpfen. Das dämmrige Elektrolicht machte ihr plötzlich zu schaffen, und die Gewürze rochen so penetrant, so bedrängend. Schwitzte sie? Während sie tief in die Decke kroch, fiel das Aufnahmegerät klackernd auf den Steinboden.
    Noch über elf Minuten, zeigte das Display an. Offenbar war Paul Grotemeyer mit seiner Erzählung noch nicht fertig. Wie auch? 1912 , bei der Abtreibung, war Mathilde fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Leben war ja danach noch lange nicht zu Ende. Mit geschlossenen Augen sah Sophie ein Foto von Mathilde als ältere Dame vor sich, ihre grauen Haare waren sanft gewellt und nach hinten gesteckt. Sie stand in London neben ihrem Vater, den sie stützend umarmte. Die Freuds waren ins Exil geflohen, um nicht deportiert zu werden wie später die vier Schwestern von Sigmund Freud. Sophie, die sonst gut rechnen konnte, machte es jetzt unendliche Mühe zu errechnen, wie alt Mathilde Freud wohl auf dem Foto von 1938 gewesen war. Sie sah schon so unbestimmbar ältlich aus. Die regelmäßigen Punkte auf ihrem Kleid schoben sich immer wieder zwischen die Rechnung. Einundfünfzig, dämmerte es Sophie, einundfünfzig Punkte? Nein, Sophies Stirn brannte jetzt, einundfünfzig Jahre. Da fing Mathildes zweites Leben in London an. Die Einundfünfzig tanzte durch den Raum. Sie tanzte zum Klang des plätschernden Quellwassers. Es hörte nicht auf zu plätschern. Wie ein Bandwurm fraß sich das Geräusch in ihr Hirn.
    Sie öffnete leicht die Augen, die Lider waren nun heiß und schwer. Sie blickte sich Hilfe suchend nach dem Gerät um. Es lag in Reichweite, aber es wieder anzustellen fiel ihr nicht leicht. Ihre Finger waren zittrig und verschwitzt, zweimal rutschte sie von dem kleinen Knopf ab. Sie wollte Pauls Stimme hören – da war sie wieder.
    Dem Gesagten wirklich zu folgen war ihr nicht mehr möglich. Pauls Monolog riss in Fetzen. Sie musste an die Berge im Regen denken, wenn die Wolken ganz tief hingen und nur ab und zu einen Blick auf die Landschaft freigaben. Eine Lücke riss auf, man sah Fels, einen Wasserfall, einen Acker, einen Gletscher, eine Almhütte. Dann schloss sich alles wieder in dichtem Wolkennebel. So ging es ihr mit Pauls Worten. Von seiner Schwester redete er nun, sie schienen sich sehr nahezustehen. Sie hatte ihn wohl nach der Szene im McDonald’s beschimpft. Sophie musste lächeln. »Superbeknackter Bruder«, blieb bei ihr hängen. Hatte die Schwester auch mit ihrer Schwangerschaft zu kämpfen gehabt? Ja, so war es wohl gewesen. Sie kam nicht mehr mit. Wie schnell das Fieber gestiegen war.
    Wieder nickte sie kurz weg und hörte dann: »Mathilde Freud wurde Modedesignerin, sie hatte schon in Wien Kleidung designt. Feine Abendroben für den Wiener Opernball. In London machte sie damit weiter und eröffnete zusammen mit einem Geschäftspartner einen Laden in der Baker Street. Kennst du die von Sherlock Holmes? Da soll der Meisterdetektiv laut Roman wohnen. Fünfundzwanzig Jahre lang leitete sie das Geschäft. Ihre Spezialität: Brautmoden.«
    Aufs Neue begann ihr fiebriges Hirn zu arbeiten, setzte die Worte in Bilder um. Sonderbares füllte ihre Träume, Sigmund Freud heiratete, ganz in Weiß, Sherlock Holmes im schwarzen Frack, der eine hatte die Zigarre, der andere die Pfeife im Mund. Dazwischen sprangen Kröten auf dem Boden

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