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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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damals sehr en vogue. Im Sommer 1912 war sie dann definitiv schwanger. Kommst du noch mit?«
    Unmerklich nickte Sophie. Ja, sie kam noch mit. Ein einziger Kuraufenthalt hatte Mathilde Freud verändert, einer, der ganz anders verlief als die unzähligen Kuraufenthalte zuvor. Marienbrunn! Es war möglich. Während er sprach, war sie aufgestanden, um das Licht anzudrehen. Das Ochsenauge über der Kröte wurde immer mehr zu einem dunklen Punkt in der Wand. Noch war der Himmel dahinter dämmrig grau, aber bald würde nur noch ein schwarzes Loch zu sehen sein. Ein Seelenloch, fiel Sophie plötzlich wieder ein – die hatte man in Großsteingräbern der Steinzeit gefunden. Ein kreisrundes Loch am unteren Rand der Steinplatte, damit die Seele, die den Körper verließ, ins Freie fliehen konnte. Gruselig. Dankbar schaute Sophie die kleine elektrische Birne an und war froh darüber, ein bisschen Licht im Raum zu haben. Es wurde kühler. Wie gut, dass sie die Decken mitgenommen hatte.
    Weil ihre Gedanken sie so abgelenkt hatten, verlor sie den Anschluss an Pauls Ausführungen. Sie hielt das Gerät kurz an und spulte zurück.
    »… 1912 war sie definitiv schwanger. Kommst du noch mit?«
    Eine kurze Pause entstand jetzt. Paul holte Luft. Paul – wie selbstverständlich sie jetzt seinen Namen dachte.
    »Sophie, ich habe keine Ahnung, ob du das weißt, aber: Das Kind hat Mathilde nie bekommen. Heute wäre das sicher anders gelaufen, aber damals, 1912 , das war eine andere Zeit. Man hatte das Antibiotikum noch nicht entdeckt. Die Schwangerschaft war wohl doch zu viel für Mathilde, das Fieber setzte unerwartet ein. Sie fieberte über Wochen, vorbei war es mit der ›excellent time‹, sie wurde schwächer und schwächer. Du musst wissen, Mathilde hatte als junge Frau immer mit Entzündungen zu kämpfen: Blinddarmentzündung, Bauchraumentzündung, entzündete Narben. Irgendwo in ihrem Körper wütete wohl wieder ein Entzündungsherd. Also riet ihr Arzt zum Schwangerschaftsabbruch. Das kam damals offensichtlich vor – ein Abbruch aus medizinischen Gründen, auch wenn Abtreibung eigentlich streng verboten war. Aber manche Ärzte hatten offenbar ein Einsehen. Weil damals die Gefahr, dass eine Frau eine Geburt nicht überlebte, wirklich sehr groß war. Also beendete der Arzt Mathildes Schwangerschaft im Herbst 1912 – mit ihrem Einverständnis. Die ganze Familie wusste davon. Ihr Vater sagte extra eine berufliche Reise nach England ab, um ihr zur Seite zu stehen. Der Eingriff verlief alles andere als professionell, der Arzt pfuschte. Danach war klar, Mathilde würde niemals mehr Kinder kriegen können. Das Kapitel war beendet.«
    Sophie schaltete die Aufnahme aus, sie musste sich an der Wand abstützen. Auf die Idee war sie niemals gekommen – Mathilde Freud war zwar schwanger geworden, aber das Kind hatte sie nie bekommen. Das Wasser hatte ihr zwar geholfen, aber ihre Kraft hatte nicht ausgereicht, um das Kind auszutragen. Niemand hatte das bislang erwähnt – und nun erinnerte sie sich wieder, wie der Archivar Dr. Gnoth ihr am Ende ausgewichen war. »Allerdings hat Mathilde nie … Egal, sie wurde schwanger, und allein das war eine kleine Sensation.« So ähnlich hatte er es damals formuliert und dann mitten im Satz abgebrochen. Er hatte ihr nicht erzählen wollen, dass es nicht gereicht hatte. Warum? Um ihr nicht den Mut zu nehmen? Sie lebte doch in einer ganz anderen Zeit. Heute hätte Mathilde Freud das Kind sicher austragen können. Dieser Raum hier war doch ein Beweis dafür. So viel Glück hing hier.
    Sie ging an den Tafeln und Kröten vorbei, und der sonderbare heidnische Raum erfasste sie regelrecht. »Danke«, immer wieder »Danke«. Viele heitere Bilder waren zu sehen, helle Himmel, Berge, Wasser, Frauen mit Babys in den Armen und Babys allein. Aber eben nicht nur. Manche Bilder wirkten düster. Sie blieb vor einem sehr groben Ultraschallbild stehen. »Abort 8/8/84« stand darauf. Mehr nicht.
    Philipp von Studnitz hatte sie gewarnt, dass hier nicht nur glückliche Schicksale hingen. Da wurde Sophie plötzlich klar, dass die Schwangerschaft – neben schweren Krankheiten und dem Tod – eine der wenigen existenziellen Erfahrungen war, die man auch als moderne Großstadtfrau in der westlichen Welt durchlebte. Es gab keine Garantie, dass es gut ging. Eine gelungene Schwangerschaft konnte man nicht kaufen, man konnte sie nicht einklagen, man konnte sie sich noch nicht einmal durch ein gesundes und sportliches Leben

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