Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
können“, stellte Dr. Randolph fest.
George hustete und machte eine schwache Handbewegung. „Meine Güte, Ross!“ Er stöhnte. „Welchen Teil von keine Wiederbelebung verstehst du nicht?“
Auch wenn sein Großvater sich weigerte, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, wurde er doch für ein paar Stunden zur Beobachtung dabehalten. In der Notaufnahme brannten grelle Lichter, es war laut und unruhig durch weinende Kinder, brabbelnde Betrunkene, Menschen, die krank oder verletzt stöhnten, Personal, das einander Anordnungen zurief. Ross biss die Zähne zusammen, als ihm ein paar unwillkommene Erinnerungen an den Krieg durch den Kopf schossen. Er schob sie in die hinterste Ecke seines Geistes, um sich ganz auf seinen Großvater konzentrieren zu können. Ein dünner blauer Vorhang gaukelte ein wenig Privatsphäre vor.
„Als du weg warst“, begann George, „habe ich meinen eigenen Krieg in der Mayo-Klinik geführt. Glaubst du nicht, dass ich diese Krankheit besiegen wollte? Ich habe alles gegeben, Ross. Sie haben meinen Kopf betäubt, einen Stahlrahmen in meinen Schädel geschraubt, sie haben mich mitGammastrahlen beschossen und mit Chemo vollgepumpt …“
„Das hast du mir nie erzählt, Granddad.“
„Und du hast mir nie etwas von dem erzählt, was du im Krieg gesehen hast. Ross, der Tumor kommt immer wieder. Er wird nicht aufhören, zu wachsen. Ich will das nicht noch einmal durchmachen. Und das werde ich auch nicht. Nicht einmal für dich.“
George schlief langsam ein. Ross verließ eilig den abgetrennten Bereich, als er fühlte, dass seine Gefühle ihn zu übermannen drohten.
Die Trauer kam über ihn wie das erste Frühlingstauen nach einem tiefen Winter. Er war die letzten zwei Jahre über wie betäubt gewesen, hatte in einer Blase gesteckt, die ihn von allem abgeschirmt hatte. Doch jetzt war diese Blase geplatzt. Gefühle, die er seit Jahren nicht empfunden hatte, fluteten durch ihn hindurch – die Verzweiflung und Traurigkeit über die Krankheit seines Großvaters, das Gefühl der Sinnlosigkeit.
Granddad. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Eine mächtige Flut an Emotionen.
Auch wenn er kein Geräusch von sich gab, musste Claire die Veränderung in ihm gespürt haben. Sie folgte ihm in eine ruhige Ecke am Wasserspender. Er weinte. Wann zum Teufel hatte er angefangen zu weinen?
„Ich habe mir immer eingeredet, ich wäre bereit, wenn die Zeit kommt“, bekannte er mit rauer, unsicherer Stimme. „Ich habe meinen Dad verloren und bin damit zurechtgekommen.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Ich werde auch hiermit zurechtkommen.“
„Natürlich wirst du das. Es ist die einzige Art, deinen Großvater zu ehren.“
„Himmel, das weiß ich! Aber im Moment mache ich mich nicht sonderlich gut.“ Er atmete tief ein und stellte überrascht fest, dass er immer noch am Leben war. Denn er hatte immer angenommen, etwas, das so wehtat, würde ihn umbringen.
„Doch, das tust du“, widersprach sie.
„Nein. Er hat seinen Bruder gesehen. Ich will ihn zurück in die Stadt bringen. Zurück zu den Ärzten …“
„Was ist mit dem, was er will? Das ist das einzig Wichtige hier. Du kannst zusammenbrechen. Du kannst Angst haben. Aber dein Fokus muss auf George liegen.“
Ross wusste, wovor er Angst hatte – davor, ohne seinen Großvater zu sein. Doch nach dem heutigen Abend wusste er auch, dass es für George nur endloses Leiden bedeutete, wenn er ihn zu weiteren Behandlungen in die Stadt zurückschleppte. „Ja“, sagte er nach einer Weile. „Ich weiß. Aber ich weiß nicht, was verdammt noch mal ich tun soll.“
„Nimm einen Tag nach dem anderen. Vielleicht sogar eine Stunde nach der anderen. Das Beste, was du für George tun kannst, ist, im Moment zu leben. Hab deine Zusammenbrüche bei mir. Ich kann damit umgehen. Aber wenn dein Großvater spürt, dass du dir Sorgen machst und gestresst bist, wird er sich auch Sorgen machen und gestresst sein. Wenn du mit ihm zusammen bist, lass einfach los.“
Loslassen. Ross stellte sich vor, wie er losließe. Die Hand eines Soldaten inmitten eines Notfalls. Einen Fisch, den er am Seeufer gefangen hatte. Loslassen, dachte er. Loslassen.
Ihre schlichten Worte umschlangen seine Seele und retteten ihn so gewiss wie jemanden, der mit dem Rettungshubschrauber abtransportiert wurde. Ihre sanfte Gegenwart hob ihn auf und trug ihn davon. Der beste Weg, um seinen Großvater zu lieben, war loszulassen.
Ross rief seinen Onkel an und erzählte ihm,
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