Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Tanzfläche gewesen. Er hatte Jane Gordon auf seinem Schoß festgehalten, während Charles den Rollstuhl geschoben hatte. Zu dritt waren sie zu einem Lied von Guy Lombardo herumgewirbelt. Er fragte sich, ob einer der anderen beiden sich noch so lebhaft an den Moment erinnerte wie er.
Nachdem er seine Fähigkeit, zu laufen, wiedererlangt hatte, war er nicht geneigt gewesen, das Tanzen zu erlernen, auch wenn es zu den gesellschaftlichen Fertigkeiten eines Gentlemans gehörte. Er hätte sich bestimmt durch ein paar Nummern schummeln können, aber er entschied sich, es nicht zu tun. Denn mehr als alles andere war George Bellamy sein Auftreten wichtig. Und so vermied er es lieber gänzlich, zu tanzen, als womöglich vor aller Augen ungeschickt auszusehen.
Seine Mutter drängte ihn nicht allzu sehr. Georges Krankheit hatte ihr den Schreck ihres Lebens verursacht, und er wusste, sie war so dankbar für seine Heilung, dass sie ihn nie wieder um irgendetwas bitten würde.
Millicent und Beatrice Darrow, zwei Schwestern aus Boston, wohnten in der Hütte neben den Bellamys, und von George und Charles wurde erwartet, dass sie sie diesen Sommer über begleiten würden. George fand, dass sie großartige Mädchen waren. Sie studierten am Vassar College. Beide jungen Frauen hatten das ansprechende, leicht pferdige Aussehen, das mit den feinen Kreisen New Englands in Verbindung gebracht wurde, und sie sprachen verschiedene Sprachen mit einem breiten, flachen Akzent. Soweit es die Bellamys betraf, waren die Mädchen die perfekte Verbindung für ihre Söhne. George war sich dessen nicht so sicher, aber er hatte versprochen, ihnen einen Kirschkuchen aus der Sky River Bakery mitzubringen.
„Ach du je, sieh dir mal all das Zeug an!“ Charles fiel beinahe auf die Knie, als er die Köstlichkeiten in der Auslage der Bäckerei sah: glasierte Krapfen, Beerentörtchen, Kuchen und Torten und Kekse.
In der Bäckerei wimmelte es nur so von Leuten, die sich fürihre Wochenendpartys und Picknicks eindecken wollten. Erst kürzlich von einem Immigrantenpärchen, Leo und Helen Majesky, eröffnet, war der Laden dank seiner Vielfalt und der guten Qualität der Ware bereits berühmt.
„Verflixt und zugenäht!“, sagte jemand. Die Stimme schnitt durch das allgemeine Gemurmel in der Bäckerei. „Ich kann mich nie entscheiden, welches mein Lieblingsgeschmack ist.“
Irgendetwas an dieser Stimme – ihr Timbre oder ihr Tonfall – hallte tief in George wider und sorgte dafür, dass die Härchen in seinem Nacken sich aufrichteten. Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen und erblickte ein Mädchen mit Camp-Shirt und Shorts, die von einer Gruppe Kinder umringt war. Sie trug die Uniform der Betreuer im Camp Kioga inklusive des typischen Tuchs um den Hals. Die Kinder trugen ebenfalls Camp-Uniformen und verlangten lautstark nach den Backwaren. Irgendetwas an ihrem Lachen, der Klang oder ein besonderer Ton, vibrierte in George wie die gezupfte Saite einer Gitarre. Er spürte es in seinem ganzen Körper, was irgendwie verrückt war, denn von da, wo er stand, konnte er nicht einmal ihr Gesicht richtig sehen.
Sie stand in dem Sonnenschein, der durch das Schaufenster des Ladens schien, und es wirkte, als wenn die Sonne sie auserwählt hatte, um in ihrem Licht zu baden. Doch ansonsten war an ihr nichts Besonderes. Sie war mittelgroß und vielleicht ein wenig kurviger als der Durchschnitt. Die lockigen dunklen Haare hatte sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammengenommen, und aus den Shorts schaute ein ansehnliches Paar Beine heraus.
Er schien sie so intensiv angeschaut zu haben, dass sie seinen Blick bemerkte. Sie hielt inne in dem, was sie tat, straffte die Schultern und drehte sich um, um ihm ins Gesicht zu schauen.
Er spürte ihren Blick wie den Schlag seines eigenen Herzens. Der Augenblick des Erkennens schien sie beide gleichzeitig zu treffen. Jane Gordon .
Sie hatte sich auf hundert verschiedene Arten verändert,aber die Sachen, an die er sich bei ihr am besten erinnerte, waren immer noch gleich: große, haselnussfarbene Augen, Sommersprossen auf der Nase, ein breiter, ausdrucksvoller Mund und ein strahlendes Lächeln. Alles an ihr war purer Überschwang, genau wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren.
Innerhalb weniger Sekunden verstand er, was er an Menschen wie den Darrow-Mädchen und anderen, die seine Eltern für angemessen hielten, vermisste. Ihnen fehlte, was Jane im Überfluss hatte; eine Art nicht zu unterdrückender Funken,
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