Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Kriegsflüchtlinge in Afghanistan, deren Augen auch von Traumata zeugten, über die zu sprechen sie sich weigerten.
„Was, wenn sie nicht zurückkommt?“, fragte er seinen Großvater.
„Dann gehst du zu ihr“, erwiderte er einfach.
„Wie ein Stalker?“ Ross schüttelte entschieden den Kopf. „Ich glaube nicht.“ Er hatte sich bereits damit abgefunden, sie verloren zu haben. Es war einfach nicht richtig. Allein die Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten … Frisch aus Afghanistan gekommen und mit dem baldigen Tod seines Großvaters konfrontiert, war er schlicht nicht in der Verfassung, eine langfristige Beziehung einzugehen.
„So ein Unfug!“, platzte es aus Granddad heraus. „Mein Sohn, ich habe dir im Laufe der Jahre viele Ratschläge gegeben, und wenn du auch auf keinen von ihnen hören willst, höre bitte auf diesen: Zögere nicht, wenn du weißt, dass etwas richtig ist.“
„Aber …“
„Lass mich ausreden!“ Granddad hob die Hand; ihr Zittern war eine düstere Erinnerung an seine Krankheit. „Es gibt mehr Gelegenheiten, die man durch Zögern verpasst, als ich sagen kann. Deine Chancen gleiten dir einfach so zwischen den Fingern hindurch, während du noch dastehst und deine Optionen abwägst oder Entscheidungen rationalisierst oder eine verdammte Entscheidungsmatrix aufstellst. Wenn dein Herz dir etwas sagt, wer bist du dann, ihm zu widersprechen? In einem Schlag des menschlichen Herzens steckt mehr Weisheit als in einem ganzen mit Gehirnmasse angefüllten Thinktank.“
„Granddad, ich weiß das, was du sagst, sehr zu schätzen, aber bei Claire und mir ist es nicht so.“
„Ich habe euch zwei zusammen beobachtet. Bei euch ist es genau so.“ Er schaute einen Moment schweigend auf die Landschaft, die im sanften Morgenlicht vor ihnen lag. „Mächtige Gefühle machen uns leicht Angst“, sprach er dann bedächtig weiter. „Und wenn wir Angst haben, leugnen wir sie. Lass dich durch den ganzen unwichtigen Nonsens nicht davon ablenken, was wahr ist.“ Er nahm sein Notizbuch zur Hand. Eine Brise blätterte ein paar Seiten um. „Glaub mir – ich weiß, wovon ich spreche.“
Ross sah, dass die rechte Gesichtshälfte seines Großvaters ein wenig nach unten verzogen war und er anfing, seine Worte zu lallen.
„Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen und ein Schläfchen machen“, sagte er.
„Ich schlafe, wenn ich tot bin“, gab George zurück. „Und das meine ich nicht als Witz. Weißt du, ich habe kein perfektes Leben gelebt. Ganz im Gegenteil. Ich behaupte aber gerne, dass ich im Laufe der Jahre ein wenig weiser geworden bin, und vielleicht stimmt das auch. Aber es gibt nur eines, was ich dir hinterlassen kann, und das ist: Lebe! Lebe dein Leben. Hör auf, darüber nachzudenken, was die Leute denken könnten, und stürz dich kopfüber hinein. Mach Fehler! Es ist erstaunlich, wie viel ich verpasst habe, nur weil ich Angst hatte, Fehler zu machen. Aber wenn du erst einmal erkennst, dass du immer Fehler machen wirst, egal, wie vorsichtig du bist, dann hast du vielleicht weniger Angst.“
Angst? Ross fragte sich, ob er Angst hatte.
„Tu die Dinge, die wichtig sind“, fuhr Granddad fort. „Ich habe einmal eine Woche meines Lebens damit verbracht, meine Auffahrt zu pflastern. Die alte war eine Beleidigung für die Augen der Nachbarn, ganz löchrig und buckelig von den Wurzeln der Bäume, die sich hochdrückten. In den Rissen wuchs Unkraut. Also habe ich eine Woche damit zugebracht, die Arbeiter zu beaufsichtigen. Ich habe jeden Schritt von ihnen genau verfolgt, ihnen sogar vorgegeben, wie sie die Pflastersteine zu legen hatten und wie hoch die Sträucher am Rand sein durften. Verdammt! Jetzt wünsche ich mir, ich hätte diese Woche wieder“, schloss er. „Ich würde die Zeit ganz anders verbringen. Das ist alles, was ich sagen wollte. Tausche dein Leben nicht für irgendwelchen Kram ein, der vollkommen egal ist.“
„Das werde ich mir merken“, versicherte Ross ihm.
George schaute mit grimmigem Blick auf den halb gelesenen Roman, den Claire auf dem Tisch hatte liegen lassen. „Dufängst schon an, es zu vergessen.“
Ross erinnerte sich daran, dass er bei seinem Großvater bleiben wollte, egal, welche Probleme er auch mit Claire hatte. „Willst du nicht lieber darüber sprechen, was dich wirklich ärgert?“
Granddad schwieg so lange, dass Ross dachte, er wäre vielleicht eingeschlafen. Dann sagte er: „Es war Jane. Der Graben zwischen mir und
Weitere Kostenlose Bücher