Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
zu Zeit wurde George gefragt, warum er immer so schlechter Laune war oder warum er sich nicht aus vollem Herzen in den Spaß und die Herausforderungen seines letzten Jahres am College stürzte.
Viele Studenten im Seniorjahr wurden melancholisch und bedauerten schon das nahe Ende ihrer Zeit in Yale. Nicht jedoch George. Er konnte es kaum erwarten, endlich fertig zu sein. Weggehen zu können. Denn jetzt gab es Jane Gordon. Es reichte nicht, dass der letzte Sommer von ihr erfüllt gewesen war, nein, jetzt war sie auch noch in New Haven. Dort lebte sie bei Verwandten und kümmerte sich um ihre Mutter. Schlimmer noch, es war George zu Ohren gekommen, dass sie einen Job auf dem Campus angenommen hatte. Es erstaunte ihn immer wieder, dass sie sich zuvor nie über den Weg gelaufen waren.
George war entschlossen, sich eine großartige Zukunft aufzubauen. Um das zu tun musste er aufhören, an Jane zu denken. Er musste vorgeben, nichts für sie zu empfinden, und er musste aufhören sich zu fragen, ob sie das Gleiche fühlte. Sie hatten nie über ihre Gefühle gesprochen. Vielleicht irrte er sich. Traf unangebrachte Annahmen. Vielleicht las er mehr in die Situation hinein, als tatsächlich vorhanden war.
Doch das tat er nicht. Da gab es diesen kleinen, von ihm kaum wahrgenommenen Teil in ihm, der die Wahrheit kannte – die Wahrheit über das Unausgesprochene, aber Mächtige, was zwischen ihm und Jane entstanden war. Er wusste es so sicher, wie er die Prinzipien des objektiven Journalismus kannte.
Und sie wusste es ebenfalls, auch wenn sie niemals ein Wort darüber verlor. Er konnte die magische Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, weder verstehen noch ändern, aber er spürte sie genauso, wie er den Herbstregen auf seinen Schultern spürte, wenn er zwischen den Kursen und Seminaren über den Campus lief. Manchmal fragte er sich, ob er es sich nur einbildete. Dann erinnerte er sich wieder an den Ausdruck auf ihrem Gesicht in jener Nacht auf der Veranda über dem See und war sich sicher, dass sie genauso hart gegen die nicht zu leugnende Anziehung zwischen ihnen ankämpfte wie er.
George und Charles gehörten in Yale verschiedenen Verbindungen und Salons an. Das war innerhalb derselben Familie zwar unorthodox, aber die Brüder spürten instinktiv, dass sie ihre Leben so weit wie möglich voneinander trennen mussten. Ihre Stundenpläne überschnitten sich kaum, und Charles’ Leidenschaft für jeglichen Sport hielt ihn viel beschäftigt. Entweder war er am Bootshaus, um Rudern zu üben, oder er spielte Tennis oder Golf. George war Mitglied im Schießklub, und ansonsten mied er jegliche andere Art von Sport. Er sah sehr wenig von seinem jüngeren Bruder. Er wagte zu hoffen, dass Charles zur Besinnung gekommen war und festgestellt hatte, dass es für alle Betroffenen besser wäre, wenn er und Jane Gordon sich nicht mehr trafen.
Bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Vassar College in diesem Herbst bekam George jedoch den Eindruck, dass Jane immer noch ein Thema war. Er wartete an der Bar darauf, bedient zu werden, als er hörte, wie eines der Darrow-Mädchen – er vergaß manchmal, welche welche war – in vertraulichem Ton mit jemandem sprach. Ganz offensichtlich war sie sich nicht bewusst, dass George in der Nähe stand.
„Hast du das noch nicht gehört?“, fragte sie. „Charles Bellamy trifft sich mit einem einheimischen Mädchen – irgendeiner hier aus der Stadt. Man sagt, sie arbeitet als Zimmermädchen in der Residenz des Hochschulleiters.“
„Das kann nicht stimmen“, sagte das andere Mädchen. „Charles Bellamy? Er würde nie …“
George hatte genug gehört. Mit einem eiskalten Gefühl im Magen machte er sich am nächsten Tag auf die Suche nach seinem Bruder.
Er fand Charles schwer beschäftigt – auf dem Squashplatz des Campus, wo er sich gerade den Sieg über seinen besten Freund Samuel Lightsey erkämpfte. Es war ein goldener Indian Summer-Tag, die Temperaturen lagen um die 25 Grad. Trotz der Wärme zeigte der Herbst seine ganze Pracht, und der gesamte Hof war mit Blättern bedeckt, die von einem leichten Wind raschelnd aufgewirbelt wurden.
Als er seinen Bruder beobachtete – stark, athletisch, jede seiner Bewegungen mit absolutem Selbstbewusstsein ausgeführt – konnte George sich eines leichten Gefühls der Eifersucht nicht erwehren. Polio hatte ihm viel genommen, aber was er am meisten bedauerte, war der Verlust von Schnelligkeit und Anmut. Auch wenn seit seiner Erkrankung mehr als
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